Der Brief des Jakobus

 

Vorrede auf den Brief des Jakobus                                           

Einleitung                                       

Kapitel 1                                         

Kapitel 2                                         

Kapitel 3                                         

Kapitel 4                                         

Kapitel 5                                         

Luther, Predigt von der zweifachen Gerechtigkeit               

 

 

Vorrede auf den Brief des Jakobus

A

    Der Verfasser dieses Briefes nennt sich „Jakobus, einen Knecht Gottes und des HERRN Jesu Christi“ (Kap. 1,1) – eine Bezeichnung, die offenbar seinen ersten Lesern genügende Auskunft über seine Person geben konnte. Während man späterhin darin wohl einig wurde, dass derselbe Jakobus gemeint sei, der nach Angabe der Apostelgeschichte und des Galatersbriefs in de Jerusalemer Gemeinde einen so hervorragende Stellung einnahm (Apg. 12,17; 15,13 ff.; Gal. 1,19; 2,9), so disputiert man doch bis auf den heutigen Tag darüber, ob dieser Jakobus zu den zwölf Aposteln gehört habe oder nicht 1). Auch über die Zeit der Abfassung des Briefes und seine ersten Empfänger gehen die Ansichten weit auseinander; doch halten wohl die meisten Forscher dafür, dass der Verfasser des Briefs sich vornehmlich an die Judenchristen wende, die zu den Gemeinden in und um Palästina gehörten, und dass er nach Abschluss der Wirksamkeit des Paulus, aber noch vor der Zerstörung Jerusalems geschrieben habe 2). Seinem Inhalt nach ist der Jakobusbrief nicht sowohl belehrend, als vielmehr ermahnend (mehr paränetisch als dogmatisch). Veranlassung zum Schreiben fand Jakobus in den Übelständen, die überall die rechte Gestalt der Gemeinden beeinträchtigten: Äußere Bedrängnis, besonders durch die ungläubigen Juden; Verlockung zum Abfall; falsche Ansichten über das Wesen des seligmachenden Glaubens; Zank und Streit unter den Glieder und dergleichen mehr 3). Alle diese Punkt berührt Jakobus und behandelt sie in ganz eigener Weise, scharf, kräftig und körnig ist seine Rede, auch nicht ohne Schwung, der an die Form der alttestamentlichen Poesie erinnert. – Dass dieser Brief in der alten Kirche nicht allgemeine Anerkennung fand, erklärt sich aus dem schon früher entstandenen Streit über die Person des Verfassers, vor allem aber aus dem vermeintlichen Widerspruch des Jakobus gegen die paulinische Rechtfertigungslehre 4).

    1) Der Verfasser dieses Briefes tritt mit solchem Bewusstsein großen Einflusses auf, dass man ihn nur unter den angesehensten Lehrern der apostolischen Zeit suchen darf. Da der Apostel Jakobus der Ältere, der Sohn des Zebedäus und Bruder des Apostels Johannes, schon um das Jahr 44 n. Chr. den Märtyrertod erlitt (Apg. 12,2), also zu einer Zeit, in der die Kirche noch wenig ausgebreitet war, kommt er als Verfasser hier nicht in Betracht. Wohl aber hören wir, dass späterhin ein anderer Jakobus neben Petrus und Johannes als eine Säule der Kirche zu Jerusalem angesehen wurde, und dass er kraft dieses Ansehens bei wichtigen Vorgängen ein entscheidendes Wort mitreden durfte (siehe die oben angeführte Stellen). Diese Angaben erheben es über alles Zweifel, dass er den uns vorliegenden Brief verfasst hat. Dieser Jakobus hat, wie die kirchliche Überlieferung berichtet, sein Amt in der jerusalemischen Kirche bis an sein Ende verwaltet. Altchristliche Geschichtsschreiber erzählten von ihm, er habe wegen seines unsträflichen Lebens oder auch wegen seiner strengen Beobachtung des jüdischen Ritualgesetzes in der ganzen Stadt, auch bei den ungläubigen Juden, den Zunamen „der Gerechte“ erhalten; als dann aber Paulus der Rache seiner Feinde entzogen worden war, habe sich ihr Grimm auf Jakobus übertragen. Sie hätten von ihm verlangt, dass er zu Ostern von der Zinne des Tempels herab vor der versammelten Volksmenge ein Zeugnis gegen Christus ablege; da er aber unerschrocken Jesus als den Sohn Gottes und den Messias bekannte, sei er von der Zinne hinabgestürzt worden; da er noch gelebt habe, sei man mit Steinwürfen auf ihn eingedrungen; endlich aber, da er gar für seine Mörder betete, habe ihn ein Gerber mit einer Keule getötet. Nach diesen Berichten hätte Jakobus um das Jahr 69 n. Chr. die Krone des Märtyrertums erlangt.

    Da nun in den Apostelverzeichnissen (Matth. 10,2-4; Mark. 3,16-19;  Apg. 1,13) neben Jakobus, dem Sohn des Zebedäus (Jacobus maior), noch ein anderer Jakobus, ein Sohn des Alphäus (Jacobus minor), erwähnt wird, so erhebt sich die Frage, ob Jakobus, der Gerechte, und Jakobus, des Alphäus Sohn, eine und dieselbe Person seien. Der Jakobusbrief gibt darüber keinerlei Aufschluss; dennoch wäre der Streit wohl  nie entstanden, wenn nicht Paulus Gal. 1,19 den Jakobus einen Bruder des HERRN nennte; denn dies erinnert an das Zeugnis des Johannes (Joh. 7,3.5), dass die Brüder Jesu nicht an ihn geglaubt haben – eine Angabe, die durchaus nicht auf einen Apostel zu passen scheint. Um an dieser Stelle nicht zu weitläufig zu werden, führen wir hier nur die Gründe an, die dafür zu sprechen seien, dass der Apostel Jakobus, des Alphäus Sohn, mit Jakobus, dem Gerechten, dem Verfasser des Jakobusbriefs, eine Person ist. Die gegenteilige Ansicht erörtern wir an anderer Stelle, so dass jedem Leser Gelegenheit wird, in dieser Frage ein eigenes Urteil zu bilden.

    Guericke tritt aus folgenden Gründen dafür ein, dass der Verfasser des Jakobusbriefes der Apostel Jakobus, Sohn des Alphäus, gewesen sei: a. Von einem frühzeitigen Tod des Jakobus, des Sohnes des Alphäus, hören wir in der Apostelgeschichte kein Wort, obschon er als Apostel keine so unbedeutende Person gewesen ist, dass sein Abscheiden mit Stillschweigen übergangen worden wäre; b. dass ein Mann so frühzeitig in der jerusalemischen Gemeinde so hohes Ansehen gewann, wie die angeführten Stellen von Jakobus ausweisen, erklärt sich nicht leicht, wenn er kein Apostel war; es wäre in diesem Fall sehr sonderbar, dass Paulus Gal. 2,9 seinen Namen dem der beiden anderen Apostel voransetzt. c. Nach der allein natürlichen Deutung der Stelle Gal. 1,19 bezeichnet Paulus den Jakobus als Bruder des HERRN und zugleich als Apostel; ebenso, wie es scheint, 1. Kor. 15,7. d. Vorsichtige alte Kirchenschriftsteller (Clemens Alexandrinus, Hieronymus, Chrysostomos) haben aufgrund ihrer Forschungen diese Auffassung bestimmt zu der ihrigen gemacht. – Über den auf Joh. 7,3.5 gegründeten Einwand sagt Guericke: An dieser Stelle wird nicht ausdrücklich gesagt, dass keiner der vier Brüder des HERRN damals an ihn geglaubt hat; aber selbst wenn Jakobus minor dort eingeschlossen ist, so besagt die Stelle nicht, dass überhaupt keiner der Brüder Jesu vor dem Tod des HERRN zum Glauben gekommen sei; das Wort Jesu konnte hernach noch immer bei Jakobus diese Wirkung gehabt haben.

    2) An Judenchristen wendet sich Jakobus mit den ersten Worten: „den zwölf Geschlechtern in der Zerstreuung (Diaspora)“ (Kap. 1,1). Damit kann er nicht solche meinen, die vor Beginn der Missionstätigkeit des Paulus weit von Jerusalem entfernt etwa durch die erste Pfingstpredigt zum Glauben gekommen waren, denn Jakobus scheint von Verhältnissen zu reden, wie sie nur in älteren Gemeinden gefunden zu werden pflegen, ganz abgesehen davon, dass er, wie es scheint, sehr häufig auf das Matthäusevangelium (vgl. z.B. Kap. 1,22 mit Matth. 7,21; 2,13 mit Matth. 5,7; 18,30.34; 4,12 mit Matth. 7,1 usw.), ja, sogar auf paulinische Briefe anspielt (vgl. Jak. 1,12 mit 2. Tim. 4,8; 2,5 mit 1. Kor. 1,26; besonders 4,5 mit Gal. 4,17). Demnach hat wohl Jakobus vornehmlich die Judenchristen der älteren Gemeinden in und um Palästina im Auge gehabt, hat wohl an sie von Jerusalem aus geschrieben, nachdem Paulus vom Schauplatz der Tätigkeit abgetreten war, aber noch vor der Zerstörung Jerusalems, da er ja selbst diese nicht erlebt hat.

    3) Die Judenchristen, denen Jakobus schreibt, standen unter dem Druck und den Lockungen ihrer ungläubigen Volksgenossen in großer Gefahr des Abfalls (Kap. 1,2-4; 5,7-11); besonders über die Erhörung gläubiger Gebete waren unter ihnen Zweifel entstanden (Kap. 1,5-8; 5,15-18); die Reichen hatten um ihres Besitzes willen Einfluss gewonnen, und die Armen wurden zurückgesetzt (Kap. 1,10; 2,1-13; 5,1-6, obwohl in letzterer Stelle vielleicht ungläubige Juden gemeint sind)(; am gefährlichsten war der falsche Wahn, dass der wahre Glaube gar wohl ohne Werke bestehen könne (Kap. 2,14-26); Zungensünden aller Art kamen häufig vor (Kap 3; 4,11; 5,12).

    4) Wie andere vor ihm, hat Luther den Jakobusbrief „für keines Apostels Schrift“ gehalten. Seinen Hauptgrund führt er in der Vorrede von 1522 mit folgenden Worten aus: „Aufs erste, dass sie stracks gegen St. Paulus und alle andere Schrift den Werken die Gerechtigkeit gibt und spricht: Abraham sei aus seinen Werken gerecht geworden, da er seinen Sohn opferte, so doch St. Paulus Röm. 4,2.3 dagegen lehrt, dass Abraham sei ohne Werke gerecht geworden, allein durch seinen Glauben, und beweist das mit Mose, 1. Mose 15,6, ehe denn er seinen Sohn opferte. Ob nun dieser Epistel wohl möchte geholfen und solcher Gerechtigkeit der Werke eine Glosse gefunden werden, kann man sie doch darin nicht schützen, dass sie Kap. 2,23 den Spruch Mose 1, Mose 15,6 (welcher allein von Abrahams Glauben und nicht von seinen Werken sagt, wie ich St. Paulus Röm. 4,3 führt) doch auf die Werke zieht, darum dieser Mangel schleißt, dass sie keines Apostels sei.“ Diese Ausstellung Luthers wird immer als ein Ausdruck der althergebrachten Zweifel an der Echtheit des Jakobusbriefs Geltung behalten, so dass trotz aller Glossen diese Epistel stets als eine Schrift zweiten kanonischen Ranges angesehen werden muss. Doch hat folgende Ausgleichung des scheinbaren Widerspruchs zwischen Paulus und Jakobus einiges Gewicht: Beide reden von dem seligmachenden Glauben; aber während Paulus besonders hervorhebt, dass die Werke keine Rechtfertigung bei Gott verdienen können, will Jakobus dem falschen Gedanken entgegentreten, dass der Glaube nichts  sei als ein bloßes Bekenntnis des Mundes, und betont deshalb die Notwendigkeit, den wahren Herzensglauben durch gute Werke zu betätigen. Die Rechtfertigung Abrahams durch die Werke bestand also darin, dass die Werke die durch den Glauben erlangte Rechtfertigung auch nach außen hin bewiesen, wie ja Gott auch am Jüngsten Tag an den Werken der Gläubigen nachweisen wird, dass sie gerechtfertigt waren. Zu Jak. 2,23 macht die Weimar’sche Bibel folgende Glosse: „(Solcher Gestalt) ist die Schrift zu ihrer Vollständigkeit gekommen, die da (zweierlei) sagt (erstlich): Abraham glaubte Gott, und das wurde ihm zugerechnet zur Gerechtigkeit (gerechtfertigt vor Gott); und (fürs andere, wie solche Gerechtigkeit öffentlich bezeugt worden, indem er) Gottes Freund (Jes. 41,8) genannt worden.“

 

 

Einleitung

 

    Die letzten sieben Briefe des Neuen Testaments sind als die allgemeinen oder katholischen Briefe bekannt. Sie werden katholisch, universal oder kreisförmig genannt, weil sie nicht an eine einzelne Gemeinde, Stadt oder Nation, sondern an alle Gläubigen geschrieben wurden. „Die frühen Schreiber der Kirche, die diesen Begriff einführten, wollten damit wahrscheinlich andeuten, dass diese Briefe in ihrem Inhalt und ihrer Zielsetzung allgemeiner waren als die des Paulus, der seine Briefe an bestimmte, namentlich genannte Gemeinden oder Einzelpersonen richtete, während Petrus, Johannes, Jakobus und Judas ganze Gruppen von Gemeinden ansprachen.“

    Der Verfasser gibt sich nicht eindeutig zu erkennen, zumindest nicht, was die Menschen der späteren Zeit betrifft, denn er nennt sich einfach Jakobus, oder Jacobus, ein Diener Gottes und des Herrn Jesus Christus, Kap. 1,1. Aber obwohl es noch einige Zweifel gibt, wird doch allgemein die Wahrscheinlichkeit zugegeben, dass der Verfasser Jakobus der Geringere ist, Mark. 15,40, der Sohn des Alphäus und der Maria, Matth. 10,3; Mark. 3,18; Luk. 6,15; Apg. 1,13; Matth. 27,56.61. Viele Ausleger meinen, dass er mit Jakobus, dem Bruder Jesu, genannt der Gerechte, identifiziert werden muss, Matth. 13,55; Mark. 6,3; Gal. 1,19. Der Grund, warum man heute allgemein annimmt, dass dieser Mann der Verfasser war, liegt darin, dass er der einzige Mann war, der eine solche Autoritätsposition innehatte, wie sie in diesem Brief angedeutet wird. Vgl. Gal. 1,18.19; Apg. 12,17; Gal. 2,9.12; Apg. 15,4-29; 1. Kor. 15,7. Es wird angenommen, dass Jakobus der Geringere nach dem Tod des älteren Jakobus, Apg. 12, 2. 17, das Oberhaupt der Gemeinde in Jerusalem war und als solches eine Macht- und Vertrauensstellung innehatte, die ihm einen großen Einfluss verlieh.

    Der Brief ist „an die zwölf Stämme, die in der Fremde zerstreut sind“ gerichtet, d. h. an die Judenchristen in der Zerstreuung, die außerhalb Palästinas und besonders außerhalb von Judäa und Jerusalem lebten. Es waren viele Tausende, Apostelgeschichte 21,22, und sie waren vielen Prüfungen ihres Glaubens ausgesetzt, was ihnen eine große Geduld abverlangte, Kap. 1,2.4; 5,7-18. Der Zustand der Gemeinden, wie er im Brief beschrieben wird, macht es wahrscheinlich, dass er irgendwann in den sechziger Jahren des ersten Jahrhunderts geschrieben wurde, und da es unmissverständliche Bezüge zum Matthäusevangelium gibt, muss das Datum zwischen 63 und 69 n. Chr. angesetzt werden.

    Was die charakteristischen Merkmale des Briefes anbelangt, so unterscheidet er sich in verschiedener Hinsicht von den anderen Briefen des Neuen Testaments und erinnert oft an die Spruchweisheiten des Alten Testaments. "Die Epistel ist weniger lehrhaft als alle anderen im Neuen Testament. Das Ziel des Verfassers ist weniger die Belehrung als vielmehr die Ermahnung und der Zuspruch. Dies ist die Epistel des heiligen Lebens. Es wird großer Nachdruck auf die Werke gelegt, nicht als etwas anderes als der Glaube, sondern als Beweis und Frucht des Glaubens. „Der Stil des Briefes ist gefühlvoll und eindringlich, er springt schnell und manchmal ohne erkennbare logische Struktur von einem Thema zum anderen. Indem er die Sünde in scharfen Worten und einer geschliffenen, poetischen Sprache anprangert, erinnert Jakobus an einen der alten hebräischen Propheten.“[1]

    Der Brief hat keine eindeutige Gliederung, da er eher eine pastorale Anweisung als eine lehrhafte Diskussion ist. Nach der Ansprache können wir acht Gruppen von Ermahnungen unterscheiden, die in einer eher lockeren Weise miteinander verbunden sind und alle das Thema darstellen: Der Christ, wie er sein soll, ein vollkommener Mensch Gottes: 1) Eine Ermahnung zur Standhaftigkeit in den Anfechtungen, die den Glauben prüfen. 2) Eine Ermahnung an die Leser, sich als echte Täter des Wortes zu erweisen. 3) Eine Warnung an die Reichen, die Armen nicht zu verachten. 4) Eine Warnung vor einem toten, unfruchtbaren Glauben. 5) Eine Warnung vor den Sünden der Zunge. 6) Eine Ermahnung, Zankereien zu vermeiden. 7) Eine Ermahnung zur Demut und Barmherzigkeit. 8) Eine Ermahnung zur Geduld im Hinblick auf die Wiederkunft des Herrn und zur bereitwilligen Liebe zu den Brüdern.[2]

    Vielen Bibelstudenten ist eine scheinbare Diskrepanz zwischen den Briefen des Paulus und dem vorliegenden Brief aufgefallen, da es den Anschein haben könnte, dass die Lehre des Jakobus im Widerspruch zu der von Paulus mit so viel Nachdruck gelehrten Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben steht. Aber es gibt keinen wirklichen Konflikt. Paulus schreibt gegen den selbstgerechten Menschen, der nicht allein durch die Gnade Gottes in Christus Jesus gerechtfertigt und gerettet werden will, sondern darauf besteht, dass gute Werke notwendig sind, um das Heil zu erlangen; Jakobus schreibt gegen den eitlen, törichten Menschen, der für das Heil auf eine unfruchtbare Orthodoxie vertraut und sich einbildet, dass ein bloßer Glaube des Verstandes und ein bloßes Bekenntnis des Mundes ohne irgendwelche Werke der rettende Glaube ist.[3]

 

 

Kapitel 1

 

Verschiedene Anfechtungen und deren Überwindung (1,1-15)

    1 Jakobus, ein Knecht Gottes und des HERRN Jesus Christus, den zwölf Geschlechtern, die da sind hin und her: Freude zuvor!

    2 Meine lieben Brüder, achtet es eitel Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtung fallt, 3 und wisst, dass euer Glaube, so er rechtschaffen ist, Geduld wirkt. 4 Die Geduld aber soll festbleiben bis ans Ende, damit ihr seid vollkommen und ganz und gar keinen Mangel habt. 5 So aber jemand unter euch Weisheit mangelt, der bitte von Gott, der da gibt gern und ohne Tadel jedermann; so wird sie ihm gegeben werden. 6 Er bitte aber im Glauben und zweifle nicht; denn wer da zweifelt, der ist gleich wie die Meereswoge, die vom Wind getrieben und gewebt wird. 7 Solcher Mensch denke nicht, dass er etwas von dem HERRN empfangen werde.

    8 Ein Zweifler ist unbeständig in allen seinen Wegen. 9 Ein Bruder aber, der niedrig ist, rühme sich seiner Höhe, 10 und der da reich ist, rühme sich seiner Niedrigkeit; denn wie eine Blume des Grases wird er vergehen. 11 Die Sonne geht auf mit der Hitze, und das Gras verwelkt, und die Blume fällt ab und seine schöne Gestalt verdirbt; so wird der Reiche in seiner Habe verwelken.

    12 Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet; denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, welche Gott verheißen hat denen, die ihn liebhaben. 13 Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde; denn Gott ist nicht ein Versucher zum Bösen; er versucht niemand; 14 sondern ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und gelockt wird. 15 Danach, wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod.

 

    Die Anrede (V. 1): Im Gegensatz zu den Grußformeln, die den Anfang der Paulusbriefe kennzeichnen, ist diese Ansprache sehr kurz, genau in dem Stil, der damals beim Schreiben von Briefen verwendet wurde. Der Apostel Jakobus nennt sich selbst einen Diener, was sowohl die Vorstellung eines Anbeters als auch eines Dieners beinhaltet. Er ist ein Diener Gottes und des Herrn Jesus Christus, denn die beiden Personen der Gottheit stehen in ihrer Göttlichkeit und Autorität auf der gleichen Stufe. Dieser Brief ist an die zwölf Stämme gerichtet, wobei der Ausdruck ein Synonym nicht nur für das gesamte jüdische Volk ist, sondern auch für das wahre Israel, das geistige Volk des Alten Testaments, die Gesamtheit derer, die den Messias in festem Glauben erwartet hatten und nun Christus als den verheißenen Messias anerkannt hatten. Diese Gläubigen, diese christlichen Juden, lebten verstreut in der Zerstreuung, in den Ländern außerhalb Palästinas und vor allem außerhalb von Judäa. In vielen Fällen bildeten sie die Mehrheit der Gemeinde, und die gesamte Politik der Gemeinde wurde von ihnen bestimmt. An sie alle richtet Jakobus seinen Gruß in der üblichen Anredeform.

 

    Anfechtung und Gebet (V. 2-7): Ohne jede Einleitung oder Vorrede stürzt sich der Apostel sofort in seine Ermahnungen, wobei er zuerst die Frage der Versuchung und des Gebets aufgreift: Seid fröhlich, meine Brüder, wenn ihr in mancherlei Anfechtungen geratet, weil ihr wisst, dass die Prüfung eures Glaubens Geduld erzeugt. Das Bild, das der Verfasser verwendet, ist das eines Soldaten, der einem Gegner gegenübersteht, vor dessen Angriff er gewarnt wurde und dessen Kampfweise er studiert hat. Die Spannung des Wartens auf den drohenden Angriff ist vorbei; der Christ kann mit seinen Feinden abschließen. Wie einen Soldaten in einem solchen Moment eine Art von Jubel ergreift, weil er nun in den Kampf ziehen kann, so soll sich der Christ freuen, dass er in den Kampf eintreten darf, den der geistliche Kampf in dieser Welt von ihm verlangt. Denn er kämpft nicht in seiner eigenen Kraft, sondern in der Macht des Herrn, die ihm durch den Glauben vermittelt wird. Wie groß auch die Versuchung sein mag, so dient doch der Gedanke zum Trost, dass die Erprobung des Glaubens durch die verschiedenen Versuchungen, mit denen die Christen zu kämpfen haben, sie geduldiges Ausharren lehrt, ja diese Gesinnung in ihnen bewirkt. Jeder bekennende Christ also, der inmitten solcher Prüfungen standhaft bleibt, Eph. 6,10-16, gibt den Beweis, dass sein Glaube fest ist, und dieser Beweis an sich veranlasst ihn, Mut zu fassen, geduldig zu ertragen und auszuharren.

    Diese Geduld ist für das Leben der Christen notwendig, wie der Apostel sagt: Die Geduld aber soll ihre vollkommene Wirkung haben, damit ihr vollkommen und vollständig seid und es euch an nichts mangelt. Das geduldige Ausharren der Christen darf kein bloßer Schein sein, sondern muss echt, wahrhaftig, das fertige Produkt sein, das den Namen mit vollem Recht trägt. Denn nur dann werden die Gläubigen selbst so sein, wie sie sein sollten, indem sie ihr Los in der Welt erfüllen, indem sie ihrer hohen Berufung voll und ganz gerecht werden und indem es ihnen an nichts Wesentlichem der christlichen Heiligung mangelt oder fehlt. Wenn jemand, der sich Christ nennt, schon beim ersten Angriff seiner Feinde nachgibt oder ihren wiederholten Angriffen nicht standhält, so ist das ein Beweis dafür, dass er noch nicht den Glauben besitzt, der sich auf die Kraft des Herrn gründet, einen Glauben, der die Welt mit allen ihren Versuchungen überwindet.

    Der Apostel führt nun einen weiteren Gedanken ein, der ebenso wichtig für das Leben der Christen ist: Wenn es aber jemandem von euch an Weisheit mangelt, so bitte er Gott aufrichtig und ohne Vorwurf, und sie wird ihm gegeben werden. Angesichts der Hilflosigkeit des Menschen und seines Mangels an Klugheit und Voraussicht in den verschiedenen Lebenssituationen ist diese Ermahnung mit ihrer Zusicherung ein großer Trost. Es kommt so oft vor, dass Christen mit ihrem Latein am Ende sind, weil sie weder wissen, was unter den gegebenen Umständen das Beste ist, noch wie sie das Ziel erreichen können, das offensichtlich erreicht werden soll. In jeder noch so komplizierten Situation haben wir jedoch die Gewissheit, dass Gott uns hilft, und sollten deshalb in einfachem Vertrauen darum bitten, weil wir wissen, dass Gott seine Gaben mit aller Zielstrebigkeit austeilt, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Er nimmt es uns auch nicht übel, wenn unser Gebet kindisch und seiner erhabenen Aufmerksamkeit nicht würdig erscheint. Weder unsere eigene wesentliche Unwürdigkeit noch die Majestät des Herrn sollten uns davon abhalten, ihn um das zu bitten, was wir brauchen, um uns in unserer eigenen Heiligung und im Werk seines Reiches zu unterstützen. Vgl. Heb. 4,16. Hier, wie auch an anderen Stellen der Heiligen Schrift, wird uns ausdrücklich gesagt, dass Gott das Gebet derer erhören wird, die an ihn glauben. Vgl. Matth. 7,7; Mark. 11,24; Luk. 11,9; Joh. 14,13.

    Aber der Apostel fügt ein Wort der Warnung hinzu: Wer aber im Glauben bittet, der zweifelt nicht; denn wer zweifelt, der ist wie eine Meereswoge, die vom Wind bewegt und geschaukelt wird. Denn der Mensch soll sich nicht einbilden, dass er etwas von Gott empfangen wird. Jedes wahre Gebet ist eine Frucht des Glaubens, durch die der Gläubige in die Beziehung eines Kindes zu Gott eintritt. Wie liebe Kinder ihren lieben Vater bitten, so sollte der Glaube der Christen sie dazu drängen, ihre Bedürfnisse vor ihren Vater im Himmel zu bringen. Zweifeln ist das genaue Gegenteil von Glauben und eine Beleidigung für die Güte und das Wohlwollen des Herrn. Der Zweifler wird treffend als eine Welle beschrieben, eine Woge des großen Meeres, die vom Wind erst in die eine und dann in die andere Richtung getrieben wird, weshalb Wellen schon immer zur Beschreibung der Unbeständigkeit des Charakters und der Gedanken verwendet wurden. Der Glaube eines Christen hat ein festes Fundament; der Zweifel eines Ängstlichen, auch wenn er sich als Christ bekennt, hat kein Fundament. Und deshalb sollte ein solcher Mensch sich nicht einbilden, dass er irgendetwas vom Herrn erhalten wird, denn seine Haltung schließt ihn von den Verheißungen aus, die dem Glauben und dem Gebet des Glaubens gegeben wurden. Man beachte, dass in diesem Text ein Hauch von Verachtung mitschwingt, wenn ein Mensch mit zögerlichem Glauben erwartet, dass sein Gebet erhört wird.

 

    Demut tut not (V. 8-11): Im Zusammenhang mit der Zurechtweisung des zweifelnden Herzens und der Charakterisierung seiner Unbeständigkeit unter dem Bild der Meereswellen fügt der Apostel die allgemeine Wahrheit hinzu: Ein doppelgesinnter Mensch ist er, unzuverlässig auf allen seinen Wegen. Er ist sich nie ganz sicher: Soll ich dem Herrn vertrauen, oder ist es nicht sicher, es zu tun? Einmal will er dem Herrn von ganzem Herzen vertrauen, ein andermal setzt er sein Vertrauen auf Menschen. Daraus folgt, dass nicht nur sein Gebet eine Sache des Zufalls ist, sondern dass er in allem, worauf er sich verlässt, unzuverlässig ist; sein Christentum ist keine verlässliche Tatsache, sondern eine ungewisse Größe ohne Wert.

    Eine weitere Ermahnung betrifft die verschiedenen Stellungen der Christen in diesem Leben: Der niedrige Bruder soll sich freuen, dass er erhöht ist, der reiche aber, dass er erniedrigt ist; denn er vergeht wie die Blume des Grases. Diese Worte lehren die richtige Einstellung zur sozialen Stellung in ihrer Beziehung zum Christentum. Wenn ein christlicher Bruder, der eine niedrige Stellung im Leben einnimmt, erhöht wird, indem er am Reichtum Gottes im Evangelium teilhat, ist das ein Grund zur Freude, denn es zeigt, dass es bei Gott keine Ansehen der Person gibt. Der Reiche dagegen, der mit dem Besitz vieler irdischer Güter gesegnet ist und deshalb in Gefahr steht, sich auf solche armseligen Segnungen zu verlassen, sollte sich glücklich fühlen und jubeln, wenn die Lehren des Christentums ihn zur Erkenntnis der Vergänglichkeit dieser Welt und aller ihrer Güter führen. Denn nur in dem Maße, wie er sich selbst und alle Reichtümer dieser Welt verleugnet, wird er den Reichtum der Segnungen Christi verstehen. Denn wenn er auf die Dinge dieser Welt vertraut, können sie ihm bestenfalls für einige Jahre dienen, da sie wie die Blumen des Grases vergehen müssen - kurzlebige Embleme irdischer Herrlichkeit.

    Dieser Gedanke wird noch etwas ausführlicher ausgeführt: Denn kaum ist die Sonne mit dem Ostwind aufgegangen, so erstickt sie das Gras, und seine Blüte fällt ab, und die Schönheit seines Aussehens ist verdorben; so wird auch der Reiche in seinen Ratschlägen verzehrt. Vgl. Jes. 40,6-8. Der Ostwind, der aus der syrischen Wüste heraufkam, war ein heißer und trockener Wind, der die Vegetation auf den Hügeln und in den Tälern Judäas verdorrte. Wenn die Sonne diesen Wind an einem Hochsommertag unterstützte, wurde selbst das Laub der Bäume verdorrt, die Blumen sanken verdorrt zu Boden und wurden ihrer ganzen Schönheit beraubt. Das ist auch das Los des reichen Mannes, des Menschen, der in ungewöhnlichem Maße mit den Gütern dieser Welt gesegnet ist. Ehe er sich dessen bewusst ist, reißt ihn die Hand des Todes aus dem Land der Lebenden und legt ihn ins Grab, wo ihm alle Reichtümer, die er angehäuft hat, nichts nützen werden. Umso mehr ist er gezwungen, sein Vertrauen allein auf den Herrn zu setzen und nicht auf irgendeinen seiner Besitztümer hier auf Erden. Man beachte, dass der Apostel dieses Schicksal, das wirklich alle Menschen trifft, als nur den Reichen treffend beschreibt, um diesem die Notwendigkeit einzuprägen, die Warnung zu beachten.

 

    Anfechtungen aus unserem Inneren (V. 12-15): Nachdem der Apostel gleich zu Beginn, in V. 2, von Versuchungen gesprochen hat, erklärt er nun den Begriff so, wie er ihn verstanden wissen will: Selig ist der Mann, der die Versuchung erträgt; denn wenn er die Prüfung bestanden hat, wird er die Krone des Lebens empfangen, die der Herr denen verheißen hat, die ihn lieben. In V. 2 hatte der Apostel gesagt, dass die Christen die Anfechtungen, in die sie geraten könnten, mit Freude betrachten sollten, weil sie ihnen die Gelegenheit gaben, sich zu bewähren. Hier betont er die Seligkeit eines jeden Gläubigen, der auf diese Weise erprobt wird, indem er Versuchungen widersteht und Bedrängnisse erträgt. Denn jeder Mensch, der die Prüfung im Glauben besteht, der dem Herrn bis zum Ende treu bleibt, wird den Lohn der Gnade, die Krone des Lebens, empfangen, Offb. 2,l0. Dieses wunderbare Geschenk seiner Gnade hat der Herr all denen versprochen, die ihren Glauben durch ihre beständige Liebe zu ihm beweisen. So soll uns nicht nur die Prüfung der Versuchung an sich, sondern auch der barmherzige Lohn, der uns in Aussicht gestellt wird, dazu ermutigen, trotz aller Versuchungen im Glauben auszuharren.

    Aber wir dürfen uns nicht darüber täuschen, was der Apostel meint, wenn er von Versuchungen spricht: Wenn jemand versucht wird, soll er nicht sagen: Ich werde von Gott versucht; denn Gott ist nicht zu verachten, und er versucht niemanden. Der Apostel spricht von den Versuchungen, die die Christen durch ihr eigenes Fleisch und durch die Feinde in der Welt und den Satan treffen. Kein Mensch kann sich damit herausreden, dass er, wenn er dem Unrecht nachgibt, dies auf Veranlassung Gottes tut. Diese Ausrede wird bis heute von Menschen benutzt, die sich auf ihr Temperament oder ihre Neigung zu der einen oder anderen Sünde berufen, als etwas, wofür sie nichts können, wofür sie nicht verantwortlich gemacht werden können. Solche Menschen sollten sich an eine doppelte Wahrheit erinnern: erstens, dass Gott nicht in der Lage ist, vom Bösen versucht zu werden, und zweitens, dass er die Menschen unter keinen Umständen zum Bösen verführen wird. Er ist in keiner Weise der Urheber der Sünde und kann in keiner Weise für ihre Existenz verantwortlich gemacht werden, denn er ist das Wesen der Heiligkeit und Reinheit.

    In Wahrheit muss die Sache immer so dargestellt werden: Ein jeder aber wird versucht, indem er von seiner eigenen Begierde angelockt und verführt wird. Dann gebiert die Lust, nachdem sie gezeugt ist, die Sünde; die Sünde aber, nachdem sie zur Reife gebracht ist, bringt den Tod hervor. Das stimmt mit den Worten des Erlösers überein: Aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Matth. 15,19. Der fleischliche Teil des Menschen, seine böse Natur, die Neigung und das Verlangen nach allem Falschen, die er von seinen Eltern geerbt hat, verführt, lockt, lockt, verführt ihn ständig und versucht, auch die Christen zu verschiedenen Sünden gegen alle Gebote des Herrn zu verführen. Wenn es diesem lüsternen Zustand des Herzens gelingt, auf den Verstand einzuwirken, alle Einwände zu überwinden, die der neue Mensch oder das Gewissen vorzubringen hat, dann bricht er in tatsächlichen Sünden aus. Und wenn dieser Sünde nicht rechtzeitig Einhalt geboten wird, wenn sie nicht überwunden und unterdrückt wird, wenn sie den Körper mit all seinen Gliedern in Besitz nimmt und ihren eigenen Willen in dem Betreffenden wirkt und so ihre volle Reife erreicht, dann wird das Ende der Tod sein, der ewige Tod, es sei denn, ein solcher Sünder kehrt in wahrer Reue zum Herrn zurück. Man beachte, dass das Bild des Verführens zur sinnlichen Sünde, des Anziehens wie mit der List einer Hure, durchgehend beibehalten wird, um die heimtückische Bosheit der Sünde zu zeigen.

 

Gott, unser Vater, und die Pflichten der Söhne und Töchter (1,16-27)

    16 Irrt nicht, liebe Brüder! 17 Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei welchem ist keine Veränderung noch Wechsel des Lichts und Finsternis. 18 Er hat uns gezeugt nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, damit wir wären Erstlinge seiner Kreaturen. 19 Darum, liebe Brüder, ein jeglicher Mensch sei schnell zu hören, langsam aber zu reden und langsam zum Zorn; 20 denn des Menschen Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist. 21 Darum so legt ab alle Unsauberkeit und alle Bosheit und nehmt das Wort an mit Sanftmut, das in euch gepflanzt ist, welches kann eure Seelen selig machen.

    22 Seid aber Täter des Worts und nicht Hörer allein, damit ihr euch selbst betrügt. 23 Denn so jemand ist ein Hörer des Worts und nicht ein Täter, der ist gleich einem Mann, der sein leibliches Angesicht im Spiegel beschaut; 24 denn nachdem er sich beschaut hat, geht er von Stund’ an davon und vergisst, wie er gestaltet war. 25 Wer aber durchschaut in das vollkommene Gesetz der Freiheit und darin beharrt und ist nicht ein vergesslicher Hörer, sondern ein Täter, derselbe wird selig sein in seiner Tat. 26 So aber sich jemand unter euch lässt dünken, er diene Gott, und hält seine Zunge nicht im Zaum, sondern verführt sein Herz, dessen Gottesdienst ist vergeblich. 27 Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott dem Vater ist der: die Waisen und Witwen in ihrer Trübsal besuchen und sich von der Welt unbefleckt behalten.

 

    Gott, unser Vater, und die Annahme seines Wortes (V. 16-21): Der erste Satz dient als Überleitung zwischen den beiden Absätzen: Täuscht euch nicht, meine geliebten Brüder. Es ist ein feierlicher und ergreifender Appell, den der Apostel hier ausspricht, da so viel von dem richtigen Verständnis dieser Tatsachen abhängt. Der Gedanke, dass Gott in irgendeiner Weise für die Sünde verantwortlich gemacht werden kann, ist ein Gedanke, der so stark nach Gotteslästerung riecht, dass alle Christen vor dieser Vorstellung fliehen müssen. Der Mensch allein ist verantwortlich für das Böse in seinem Herzen, das sich in den verschiedenen Übertretungen des göttlichen Willens äußert.

    Was Gott betrifft, so müssen wir immer behaupten: Jede gute Gabe und jede vollkommene Ausstattung kommt immer vom Vater des Lichts herab, bei dem es weder eine Veränderung noch einen Schattenwurf einer Wendung gibt. Gott ist die Quelle, der Vater des Lichts; alles, was wirklich Licht ist und Licht bringt, kommt von Ihm. Ohne Seine allmächtige Macht ist weder geistige Erleuchtung noch irgendetwas, das in geistiger Hinsicht einen Wert hat, möglich. Die fortwährende Verleihung guter Dinge, der unaufhörliche Schauer geistiger Begabungen und Segnungen, mit denen Er die Herzen der Menschen segnet, kommt von Ihm herab. So ist er der Urheber all dessen, was ausgezeichnet und vollkommen ist. Er kann sich daher nicht selbst verleugnen; er kann sein Wesen und seine Eigenschaften nicht ändern; in seinem Fall kommt der eigentümliche Eintritt in den Halbschatten oder der Verlust des Glanzes, wie er bei einigen Himmelskörpern auftritt, nicht in Frage. Der Mond mag seine Phasen und die Sonne ihre Finsternisse haben, aber unser Gott scheint auf seine geistlichen Kinder in ungetrübter Herrlichkeit, 1. Joh. 1,5. Gottes barmherziges Antlitz ist seinen Kindern niemals verborgen, ohne Veränderung und Unterbrechung lässt er sein Antlitz auf uns scheinen.

    Von den vielen herrlichen Gaben Gottes nennt der Apostel jene, die die höchste und beste ist: Weil er es wollte, zeugte er uns durch das Wort der Wahrheit, damit wir eine Art Erstlingsfrucht unter seinen Geschöpfen seien. Den guten und gnädigen Willen Gottes, nach dem er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, haben wir Christen erfahren. Er hat uns gezeugt, wir sind seine Kinder geworden durch das Wort der Wahrheit, das Evangelium, 1. Petr. 1,23. Als uns das Evangelium verkündet wurde, hat uns der barmherzige Wille Gottes durch dieses Mittel der Gnade aus unserem natürlichen, sündigen Leben herausgenommen und in ein neues, göttliches Leben versetzt. Durch den Glauben sind wir wiedergeboren, neu geboren, zu Kindern Gottes geworden. Und eine der Absichten Gottes, die er mit dieser Veränderung in uns verfolgte, war, uns zu einer Art Erstlingsfrucht unter seinen Geschöpfen zu machen. So wie die Erstlinge jeder Ernte in Judäa dem Herrn geweiht wurden, so sind wir Christen von der sündigen Welt abgesondert worden, um Geschöpfe Gottes zu sein, in denen das Bild Gottes erneuert wird, durch die Gott wahrhaft geehrt wird. Wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, Eph. 2,10.

    Angesichts dieser Gnade aber, deren wir teilhaftig geworden sind, mahnt der Apostel: Das wisst ihr, meine geliebten Brüder; ein jeder aber sei schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn; denn der Zorn des Menschen fördert nicht die Gerechtigkeit Gottes. Die Tatsachen, die der Apostel ihnen soeben dargelegt hatte, waren Wahrheiten, mit denen die Judenchristen vertraut waren und von deren Richtigkeit sie sich immer wieder vergewissern sollten, da auf diesem Wissen und Verständnis ihr ganzes Christentum beruhte. Die Frucht einer solchen Erkenntnis würde mit Sicherheit folgen, denn ein Mensch, der sich bewusst ist, was er dem Wort der Wahrheit verdankt, würde sicherlich immer bereit und begierig sein, das Wort zu hören, und es unmöglich finden, zu viel von seiner herrlichen Botschaft zu lernen. Von einem Christen wird jedoch genau das gegenteilige Verhalten erwartet, wenn es um seinen Nächsten geht. Er sollte zögern, etwas zu sagen, er sollte sich zurückhalten, nichts im Zorn zu sagen. Wenn er merkt, dass in seinem Herzen Zorn aufsteigt, sollte er sich beherrschen, damit sein Zorn nicht die Oberhand über seine neue geistliche Natur gewinnt und ihn zur Sünde verleitet. Denn wenn es auch eine gerechte Empörung über die Sünde gibt, die die Verantwortlichen dazu veranlasst, jede Form von Übertretung mit aller heiligen Strenge zu tadeln, so gilt doch für jede Form des Zorns, dass er nicht die Gerechtigkeit Gottes bewirkt und fördert; seine Ausbrüche finden nicht die Zustimmung Gottes, sondern eher seine Verurteilung, da sie nicht mit seinem heiligen und gerechten Willen in Einklang gebracht werden können.

    Da der Apostel die Gefahr eines ungerechtfertigten Zorns kennt, fügt er die allgemeine Warnung hinzu: Darum legt alle Bosheit ab und nehmt das euch eingepflanzte Wort, das eure Seelen retten kann, mit Sanftmut auf. Als neue Geschöpfe, als Kinder Gottes, haben die Christen einen ständigen Kampf mit ihrer alten bösen Natur, die immer wieder ihr Haupt erhebt und versucht, sie in jede Form von Unreinheit und Sünde zu führen. Aber Unreinheit jeder Art und mannigfaltige Bosheit sind mit dem Zustand des Herzens und des Geistes, den Gott von seinen Kindern erwartet, ebenso unvereinbar wie jeder Zorn und jede Gewalttätigkeit. Die Gesinnung der Gläubigen ist vielmehr die, dass sie täglich und immer wieder neu das eingepflanzte Wort empfangen, die Botschaft von ihrer Erlösung und Heiligung, wie sie ihnen im Evangelium gebracht wird, neu annehmen. Die Saat, die in ihren Herzen aufgegangen ist, soll zu einer starken, gesunden Pflanze heranwachsen, und deshalb ist es notwendig, dass sie das Wort, das allein ihre Seelen retten kann, Tag für Tag hören und lernen und seiner wunderbaren Wahrheiten nicht müde werden. Dieses Handeln der Gläubigen erfordert Sanftmut, Sanftmut, Demut, denn der Stolz des Menschen, seine Selbstgerechtigkeit und seine allgemeine Abneigung gegen den Weg des Heils werden ihm immer im Wege stehen. Aber der Preis, der den Gläubigen in Aussicht gestellt wird, die immerwährende Seligkeit in der Gegenwart Gottes, ist so beschaffen, dass er sie mit immer neuen Gedanken an ihre Heimat im Himmel erfüllt und sie so befähigt, die Angriffe ihrer fleischlichen Natur erfolgreich zu bekämpfen.

 

    Täter des Wortes (V. 22-27): Die Worte, mit denen dieser Abschnitt eingeleitet wird, bilden praktisch das Thema des gesamten Briefes, denn das Ziel des Apostels ist es, das reine Kopfchristentum zu bekämpfen, das schon damals das Leben der Kirche bedrohte: Werdet aber Täter des Wortes und nicht nur Hörer, die sich selbst betrügen. Die Judenchristen in Judäa hatten die Botschaft des Evangeliums nun schon etwa eine Generation lang gehört, und sie waren in Gefahr, von der ersten Liebe abzufallen. Sie kamen immer noch, um das Wort zu hören, aber damit war die Sache erledigt. In ihrem Leben gab es keinen Beweis dafür, dass sie den fruchtbringenden Glauben besaßen, der aus dem Hören kommen sollte, Röm. 10,17. Das Hören des Evangeliums, all der Predigten, mit denen sie so reich gesegnet waren, war bei ihnen zu einer toten Gewohnheit geworden, zu einer Gewohnheit ohne Leben. Das Hören aber sollte von einem lebendigen Glauben begleitet sein, von einem Glauben, der im ganzen Leben des Gläubigen seine Existenz beweist. Die Heiligung ist das Korrelat der Rechtfertigung. Die Predigt von Sünde und Gnade soll nicht wie ein toter Schall durch das Gehör des Christen gehen, sondern das geistliche Leben, das durch das Evangelium in den Christen gewirkt wurde, soll in Tat und Wahrheit seinen Ausdruck finden, soll lebendig und kraftvoll in guten Werken sein. Wenn es im Leben der Menschen, die sich als Christen bekennen, keinen solchen Beweis des Glaubens gibt, wenn die Heiligung nicht auf die Rechtfertigung folgt, dann täuschen sie ihr eigenes Herz, dann reden sie sich in einen Zustand fleischlicher Sicherheit hinein.

    Der Apostel erklärt seine Bedeutung durch einen Vergleich: Denn wer das Wort hört und nicht tut, der gleicht einem Menschen, der sein natürliches Gesicht im Spiegel betrachtet; denn er sieht sich selbst an und geht weg und vergisst sogleich, wie er war. Ein Mensch, auf den diese Beschreibung zutrifft, bei dem das Hören des Wortes zu einer bloßen toten Gewohnheit geworden ist, ohne Sinn und Leben, lässt sich gut mit dem Durchschnittsmenschen vergleichen, der nur in den Spiegel schaut, um zu sehen, ob sein Gesicht sauber ist, ob seine Kleidung richtig geordnet ist. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die in der Lage wären, sich an ihre eigenen Gesichtszüge zu erinnern, selbst wenn sie hunderte von Malen einen Spiegel benutzen würden. So gehen die bloßen Hörer des Wortes in ihren Alltag zurück und behalten weder die Botschaft des Evangeliums mit gläubigem Herzen, noch bringen sie mit Geduld Frucht, Luk. 8,15.

    Solchen vergesslichen, eitlen Hörern des Wortes stellt der Apostel den wahren Gläubigen gegenüber: Wer aber das vollkommene Gesetz, das der Freiheit, genau betrachtet und dabei bleibt und sich nicht als vergesslicher Hörer, sondern als Täter des Wortes erweist, der wird in seinem Tun gesegnet sein. Es ist Gottes Wille, dass die Gläubigen, die durch seine allmächtige Kraft durch den Glauben erneuert worden sind, in der Heiligkeit, in der Vollkommenheit, nach seinem heiligen Willen wachsen sollen. Das vollkommene Gesetz oder die vollkommene Einrichtung der Freiheit ist das Evangelium von Jesus Christus, denn es lehrt uns, worin die wahre Freiheit besteht, nämlich darin, unserem himmlischen Vater durch Christus zu dienen. Der wahre Gläubige betrachtet diese Tatsache nicht nur flüchtig, sondern nimmt sich die Zeit, all die Dinge sorgfältig zu studieren, von denen er weiß, dass sie die Zustimmung des Herrn haben. Gerade weil er das Ausmaß und den wunderbaren Reichtum seiner Freiheit in Christus Jesus erkennt, strebt er danach, ein Täter des Wortes zu sein und Fortschritte in der Heiligung zu machen. Und wer auf diese Weise im Dienste seines himmlischen Vaters tätig ist, wird aus Liebe zu ihm im Glauben glücklich und gesegnet sein. Allein die Tatsache, dass er Werke tut, die seinem Herrn und Meister wohlgefällig sind, ist eine Befriedigung und ein Lohn, der ihn voll entschädigt, ganz zu schweigen von dem Gnadenlohn, den der Herr ihm am jüngsten Tag auszahlen wird. Indem der Christ den Willen Gottes tut, erkennt und erfährt er seinerseits, was das Wort Gottes in ihm zu bewirken vermag, dass es eine Kraft Gottes zum Heil ist.

    Dass auf die Rechtfertigung die Heiligung folgen muss, zeigt der Apostel zum Schluss: Wer sich einbildet, ein religiöser Mensch zu sein, aber seine Zunge nicht zügelt und vielmehr sein eigenes Herz betrügt, dessen Religion ist eitel; eine reine und unbefleckte Religion vor Gott und dem Vater ist es, für Waisen und Witwen in ihrer Bedrängnis zu sorgen, sich von der Welt unbefleckt zu halten. Wenn jemand meint, er sei einer, der immer die Ehrfurcht vor Gott im Sinn hat, der sich vielleicht seiner Religion und seines Eifers für Gottes Wort rühmt und sich zugleich des dreifachen Missbrauchs der Zunge, der Verleumdung, des Fluchens und der unreinen Rede schuldig macht, so betrügt er sich damit selbst. Seine eigenen Worte und Taten strafen seine Beteuerungen Lügen; er verleugnet durch sein Leben unter der Woche, was er sonntags stolz rühmt, und deshalb ist seine sogenannte Religion eine vergebliche, nutzlose Sache. Die Kraft und Wirksamkeit des Wortes wird sich vielmehr, wie der Autor betont, bei allen wahren Gläubigen auf eine ganz andere Weise zeigen. Das ist reine, echte, unbefleckte, selbstlose Religion, eine echte Frucht des Glaubens, wie sie in der Liebe aktiv und wirksam ist, wenn Christen die Sorge für die Vaterlosen, die Witwen, für alle, die ihrer natürlichen Beschützer beraubt sind, zu ihrem besonderen Ziel machen und so ihre Not lindern, soweit es in ihrer Macht liegt. Die wahre Religion wird sich auch darin zeigen, dass die Gläubigen sich von der Welt unbefleckt erhalten, dass sie keinen Umgang mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis haben, die die Herzen und den Verstand verunreinigen und den Glauben aus dem Herzen vertreiben. So wird die Heiligung der Christen auf der ganzen Linie voranschreiten und ihr Glaube und ihre Liebe nach dem Willen ihres himmlischen Vaters ausgeübt werden.[4]

 

Zusammenfassung: Nach der Ansprache spricht der Apostel von den Versuchungen, die die Christen bedrängen, von der Kraft des Gebetes, von der Notwendigkeit der Demut, von der wahren Quelle der Versuchungen, von der Vaterschaft Gottes, von der Annahme seines Wortes mit Sanftmut und von der Heiligung als Frucht der Rechtfertigung.

 

 

Kapitel 2

 

Toter „Glaube“ verglichen mit lebendigem Glauben (2,1-26)

    1 Liebe Brüder, haltet nicht dafür, dass der Glaube an Jesus Christus, unseren HERRN der Herrlichkeit, Ansehen der Person leide. 2 Denn so in eure Versammlung käme ein Mann mit einem goldenen Ring und mit einem herrlichen Kleid, es käme aber auch ein Armer mit einem unsauberen Kleid, 3 und ihr säet auf den, der das herrliche Kleid trägt, und sprächt zu ihm: Setze du dich her aufs Beste, und sprächt zu dem Armen: Stehe du dort oder setze dich her zu meinen Füßen, 4 und bedenkt es nicht recht, sondern ihr werdet Richter und macht bösen Unterschied. 5 Hört zu, meine lieben Brüder! Hat nicht Gott die Armen auf dieser Welt, die am Glauben reich sind und Erben des Reichs, welches er verheißen hat denen, die ihn liebhaben? 6 Ihr aber habt dem Armen Unehre getan. Sind nicht die Reichen die, die Gewalt an euch üben und ziehen euch vor Gericht? 7 Verlästern sie nicht den guten Namen, davon ihr genannt seid? 8 Wenn ihr das königliche Gesetz vollendet nach der Schrift: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, dann tut ihr wohl. 9 Wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet gestraft vom Gesetz als die Übertreter.

    10 Denn wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt an einem, der ist’s ganz schuldig. 11 Denn der da gesagt hat: Du sollst nicht ehebrechen, der hat auch gesagt: Du sollst nicht töten. So du nun nicht ehebrichst, tötest aber, bist du ein Übertreter des Gesetzes. 12 Also redet und also tut, als die da sollen durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden. 13 Es wird aber ein unbarmherziges Gericht über den gehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; und die Barmherzigkeit rühmt sich gegen das Gericht.

    14 Was hilft’s, liebe Brüder, so jemand sagt, er habe den Glauben, und hat doch die Werke nicht? Kann auch der Glaube ihn selig machen? 15 So aber ein Bruder oder Schwester bloß wäre und Mangel hätte der täglichen Nahrung, 16 und jemand unter euch spräche zu ihnen: Gott berate euch, wärmt euch und sättigt euch! gäbt ihnen aber nicht, was des Leibes Notdurft ist, was hülfe ihnen das? 17 Also auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, ist er tot an sich selber. 18 Aber es möchte jemand sagen: Du hast den Glauben, und ich habe die Werke; zeige mir deinen Glauben mit deinen Werken, so will ich auch meinen Glauben dir zeigen mit meinen Werken. 19 Du glaubest, dass ein einiger Gott ist; du tust wohl daran; die Teufel glauben’s auch und zittern. 20 Willst du aber wissen, du eitler Mensch, dass der Glaube ohne Werke tot ist?

    21 Ist nicht Abraham, unser Vater, durch die Werke gerecht worden, da er seinen Sohn Isaak auf dem Altar opferte? 22 Da siehst du, dass der Glaube mitgewirkt hat an seinen Werken, und durch die Werke ist der Glaube vollkommen geworden. 23 Und ist die Schrift erfüllt, die da spricht: Abraham hat Gott geglaubt, und ist ihm zur Gerechtigkeit gerechnet, und ist ein Freund Gottes geheißen. 24 So seht ihr nun, dass der Mensch durch die Werke gerecht wird, nicht durch den Glauben allein. 25 Desgleichen die Hure Rahab, ist sie nicht durch die Werke gerecht geworden, da sie die Boten aufnahm und ließ sie auf einem anderen Weg hinaus? 26 Denn gleichwie der Leib ohne Geist tot ist, also auch der Glaube ohne Werke ist tot.

 

    Kein Ansehen der Person (V. 1-9): Es ist eine merkwürdige Tatsache, dass sich die Geschichte wiederholt, dass in den christlichen Gemeinden nach einer fast ebenso langen Zeit der Verkündigung des Evangeliums die gleichen Zustände anzutreffen sind. Der Apostel zögert nicht, das Übel mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft zu bekämpfen: Meine Brüder, haltet den Glauben an Jesus Christus, unseren Herrn der Herrlichkeit, nicht an Personen fest. Der christliche Glaube darf nicht missbraucht werden, und der Name Jesu Christi, unseres Erlösers und Königs der Herrlichkeit, darf nicht mit Schimpf und Schande behaftet werden. Der Hinweis bezieht sich wahrscheinlich auf die Tatsache, dass die zweite Person der Gottheit in der Wolke der Herrlichkeit anwesend war, die die Kinder Israels auf ihrem Weg durch die Wüste begleitete und später bei der Einweihung des salomonischen Tempels erschien. Ein solcher Zustand, eine solche unterwürfige Betrachtung der Menschen, die ganz und gar nicht mit dem Geist übereinstimmt, den Jesus Christus in seinem Umgang mit den Menschen gezeigt hat, hatte sich jedoch in die Kirchen eingeschlichen. Die Menschen wurden nicht aufgrund ihres Christseins, ihrer moralischen Vortrefflichkeit, ihrer persönlichen Frömmigkeit, ihrer Nützlichkeit für die Gemeinde betrachtet, sondern aufgrund des Reichtums, den sie angesammelt hatten.

    Dies wird vom Apostel mit großer Betonung und Wirksamkeit hervorgehoben: Denn wenn in eure gemeinsame Versammlung ein mit goldenen Ringen geschmückter Mann in einem prächtigen Gewand hineingeht, aber auch ein armer Mann in einem schäbigen Gewand, und ihr (würdet) dem Träger des prächtigen Gewandes beistehen und zu ihm sagen: Setz dich hier an den besten Platz, und zu dem armen Mann würdet ihr sagen: Bleib hier stehen oder setz dich an meinen Fußschemel, unterscheidet ihr dann nicht untereinander und werdet Richter nach bösen Erwägungen? Der Text schildert eine Zusammenkunft, eine gottesdienstliche Versammlung, wie sie in jenen Tagen stattfand. Es tritt ein Mann ein, dessen Reichtum und Einfluss auf den ersten Blick erkennbar sind. Er ist mit goldenen Ringen geschmückt, er trägt das feine weiße Gewand, das reiche Juden trugen. Kaum ist er zur Tür hereingekommen, drängen sich die Mitglieder nach vorne, um ihn zu empfangen. Mit unterwürfiger Ehrerbietung stellen sie ihm den besten Platz im Raum zur Verfügung, und ihre Gesichter zeigen gleichzeitig die Bewunderung für Reichtum und Macht, die ihre Herzen erfüllt. Doch gleich darauf tritt ein armer Mann ein, gekleidet in ein einfaches Gewand, vielleicht sogar beschmutzt von der Arbeit seiner Hände. Er wird nicht ehrerbietig hereingelassen, als er entschuldigend versucht, einen Platz zu finden, wo er bleiben kann. Stattdessen wird ihm lapidar gesagt, er könne sich in den hinteren Raum stellen oder, wenn ihm das nicht passe, sich auf den Boden setzen. Anmerkung: Die Geschichte wiederholt sich auch darin, dass genau diese Bedingungen in vielen sogenannten christlichen Kriegshäusern bis zum heutigen Tag herrschen. Aber der Apostel sagt seinen Lesern in scharfen Worten, dass sie damit eine falsche Unterscheidung treffen, eine falsche und törichte Unterscheidung, dass sie die Gemeinde des Herrn ohne die Zustimmung des Herrn in Parteien spalten, und zwar in einer Weise, die in keiner Weise mit seiner eigenen Annahme von Zöllnern und Sündern übereinstimmt. Übrigens werden Menschen, die sich Christen nennen und doch so handeln, zu Richtern nach bösen Vermutungen, nach falschen Erwägungen. Einen Menschen nur nach seiner äußeren Erscheinung zu beurteilen und ihn wegen seiner Armut zu verurteilen, bedeutet, ihn in Gedanken und Taten zu verleumden, was ganz entschieden gegen das achte Gebot verstößt.

    In feierlicher Warnung ruft der Apostel aus: Hört zu, meine geliebten Brüder: Hat nicht Gott die Armen nach dieser Welt erwählt, die reich sind im Glauben und Erben des Reiches, das er denen verheißen hat, die ihn lieben? Diese Tatsache sollten die Leser bedenken, sie sollten sie nie aus den Augen verlieren. Es sind die Armen an den Gütern dieser Welt, die Schwachen, die Törichten, die Gott erwählt hat, 1. Kor. 1,27.28. Die Weisen und Mächtigen dieser Welt sind geneigt, das Evangelium der armen galiläischen Fischer und des Nazareners, der am Kreuz starb, zu verspotten. Deshalb hat der Herr die Armen auserwählt, nicht weil ihre Herzen von Natur aus besser sind als die der Reichen und Mächtigen, sondern weil sie wenigstens nicht das Handicap haben, mit dem der Reichtum zu kämpfen hat. Und es ist die Erwählung des Herrn, die die Armen reich im Glauben gemacht hat, die ihnen das Erbe der Heiligen im Licht gesichert hat, den herrlichen Lohn der Barmherzigkeit im Himmel oben, den Gott denen verheißen hat, die ihn lieben. Vorwurfsvoll schreibt der Apostel deshalb: Ihr aber beleidigt die Armen, indem ihr sie entehrt und verachtet.

    In diesem Zusammenhang erinnert der Apostel die Judenchristen an eine weitere Tatsache: Unterdrücken euch nicht die Reichen und zerren euch selbst vor ihre Gerichte? Lästern sie nicht den herrlichen Namen, der durch eure Berufung auf euch gelegt wurde? Er spricht von den Reichen als einer Klasse und charakterisiert sie durch das Verhalten, das allgemein dort anzutreffen ist, wo sie die Macht haben. Sie üben Gewalt aus, sie unterdrücken diejenigen, die nicht zu ihrer Klasse gehören, sie versuchen, jederzeit über sie zu herrschen; sie fördern Prozesse, weil sie glauben, dass ihr Geld ihnen die Entscheidung erkaufen wird, die die Gerechtigkeit niemals fällen würde. Und allzu viele von ihnen wollen nicht glauben, dass sie des Heilands und seiner Erlösung bedürfen, sie lästern den Namen dessen, der die Christen durch den Glauben berufen und sie in die Gemeinschaft der Heiligen aufgenommen hat. Umso verwerflicher ist das Verhalten der Gläubigen, die sich gegenüber allen Reichen mit falscher Ehrerbietung verhalten.

    Der Apostel zieht daraus die folgende Schlussfolgerung: Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt, wie es in der Schrift steht: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, dann tut ihr gut; wenn ihr aber auf Personen Rücksicht nehmt, begeht ihr eine Sünde und werdet vom Gesetz als Übertreter verurteilt. Es gibt ein königliches Gesetz, eine Regel des Reiches, die auch von den Christen beachtet werden sollte, weil sie den Willen Gottes ausdrückt, nämlich das Gebot, dass sie ihre Nächsten lieben sollen wie sich selbst und keinen Unterschied machen sollen zwischen reich und arm, zwischen angesehen und unbedeutend. Ein solches Verhalten ist Gott wohlgefällig. Wenn aber die Christen solche falschen Unterscheidungen treffen, wie sie der Apostel oben skizziert hat, indem sie die Reichen und Einflussreichen nur wegen ihres Geldes bevorzugen und nicht wegen ihres christlichen Lebens und ihres moralischen Wertes, dann übertreten sie den Willen Gottes und werden von ihm und seinem Gesetz verurteilt, das dann wieder gilt. Es ist eine vorsätzliche, bewusste Sünde, derer sie sich schuldig machen werden, und es wird keine Entschuldigung für sie geben. Es ist eine Warnung, die sich in unseren Tagen wiederholen wird.

 

    Gottes Wille muss in allen Teilen gehalten werden (V. 10-13): Hier wird die Zusammengehörigkeit, die Einheit des Willens Gottes herausgestellt. Denn im Zusammenhang mit der Tatsache, dass eine fleischliche Bevorzugung von Personen eine Übertretung des heiligen Willens Gottes ist, argumentiert der Apostel: Denn wer das ganze Gesetz hält, aber in einem einzigen Ding übertritt, der ist an allem schuldig geworden. Man könnte einwenden, dass ein Vergehen der Art, wie es der Apostel erklärt, wirklich nicht viel ausmache, dass der Fehler, wenn er denn so bezeichnet werden könnte, von Gott sicher übersehen würde. Tatsächlich aber gilt derjenige, der in irgendeinem Punkt des Gesetzes Gottes übertritt, stolpert, schuldig wird, wie unbedeutend er auch im Vergleich erscheinen mag, als Übertreter des Ganzen. Ein einziges Gebot zu übertreten bedeutet, alle zu übertreten.

    Dies wird nun veranschaulicht: Denn der, der gesagt hat: „Du sollst nicht ehebrechen“, hat auch gesagt: „Du sollst nicht töten“; wenn du nun nicht die Ehe brichst, mordest aber, so bist du ein Übertreter des Gesetzes. Der Wille des Herrn ist eins und kann nicht geteilt werden, ebenso wenig wie sein Wesen und seine Eigenschaften geteilt werden können. Sowohl Ehebruch als auch Mord sind von Gott verboten, und der Ehebrecher kann sich nicht damit herausreden, dass er niemanden ermordet hat, noch kann sich der Mörder darauf berufen, dass er sich des Ehebruchs nicht schuldig gemacht hat. In beiden Fällen ist das Gesetz übertreten worden; in beiden Fällen wird der Schuldige nach der gleichen Regel bestraft, die besagt, dass die Seele, die sündigt, sterben muss.

    Der Rat des Apostels lautet daher: Redet und handelt so wie diejenigen, die durch das Gesetz der Freiheit gerichtet werden wollen. Die Christen stehen als Christen nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade. Ihr Leben der Heiligung wird durch das Gesetz der Freiheit bestimmt, das heißt, sie richten ihre Worte und Taten nach ihrer Liebe zu Gott, nach ihrer Beziehung zu ihrem himmlischen Vater als seinen lieben Kindern. Weil sie frei sind und zu Dienern der Gerechtigkeit geworden sind, finden sie ihre Freude daran, so zu reden und zu handeln, wie es ihrem himmlischen Vater und Christus gefällt. So, nach diesem Maßstab, wollen die Christen beurteilt werden.

    Diejenigen, die diese Tatsache nicht beachten wollen, werden gezwungen sein, die Warnung zu beachten: Denn das Gericht ist unbarmherzig gegen den, der nicht Barmherzigkeit geübt hat; aber die Barmherzigkeit wird sich rühmen im Angesicht des Gerichts. Wenn ein Mensch in diesem Leben keine Barmherzigkeit und Nächstenliebe übt, auch nicht in seinem Verhalten gegenüber seinem Nächsten von geringem Rang, dann wird ihm das Gericht ebenfalls die Barmherzigkeit versagen; er wird nach dem vollen Maß der Gerechtigkeit behandelt und verurteilt werden. Hat sich aber ein Christ zu allen Zeiten barmherzig gezeigt, voller Liebe zu allen Menschen unter allen Umständen, dann braucht er das Jüngste Gericht nicht zu fürchten, sondern darf sich bei dem Gedanken daran freuen, denn Gott wird dann aus seiner grenzenlosen Barmherzigkeit heraus Gnade schenken. Vgl. Matth. 5,7.

 

    Beweise den Glauben in der brüderlichen Liebe (V. 14-20): Dieser Abschnitt steht nicht im Gegensatz zu Röm. 3,21-28, sondern bietet die Gegenseite der Frage, wobei der Schlüssel zur gesamten Diskussion in V. 17 gegeben ist. Der Apostel stellt zunächst eine herausfordernde Frage: Was nützt es, meine Brüder, wenn einer sagt, er habe Glauben, aber keine Werke hat? Kann dieser Glaube ihn retten? Der Apostel charakterisiert hier eine Person, die nur mit dem Kopf, mit dem Verstand, über die Tatsachen des Heils Bescheid weiß, aber nicht den Glauben des Herzens hat, der in der Liebe tätig sein muss. Ein wirklicher Glaube, ein rettender Glaube, ohne irgendeinen Beweis für seine Anwesenheit im Herzen, ist undenkbar. Ein solcher Glaube hat nichts mit dem Heilsglauben gemein; ein solcher Glaube ist eine Täuschung und Eitelkeit.

    Um dies zu verdeutlichen, gibt der Apostel ein Beispiel: Wenn ein Bruder oder eine Schwester schlecht gekleidet ist und keine tägliche Nahrung hat, einer von euch aber zu ihnen sagen würde: Geht in Frieden, wärmt und speist euch, aber ihr würdet ihnen nicht das Notwendige für den Leib geben, was würde es ihnen nützen? Hier ist ein konkreter Fall, der auch in unseren Tagen der gepriesenen Nächstenliebe nur allzu oft anzutreffen ist. Ein Bruder oder eine Schwester mag in tatsächlicher Not sein, tatsächlich ohne die Bedürfnisse des Körpers, unzureichend gekleidet, unterernährt oder gar nicht ernährt, und doch begnügen sich manche Menschen mit dem frommen Wunsch, Gott möge für ihre Bedürfnisse sorgen. Wenn ein solcher Wunsch von jemandem geäußert wird, der in der Lage ist zu helfen, und eine tatsächliche Bedürftigkeit besteht, dann ist nur eine Schlussfolgerung möglich, nämlich dass eine solche Person nichts von dem wahren Glauben des Herzens weiß, wie er in der Liebe, in guten Werken zur Hilfe für den Nächsten tätig sein muss. In einem solchen Fall ist der fromme Wunsch ein Beispiel für die ärgste Heuchelei; denn nichts als Selbstsucht vermag die dringende Notwendigkeit zu vernachlässigen, wie sie unter solchen Umständen zur Kenntnis gebracht wird.

    Die Folgerung wird daher zutreffen: So ist auch der Glaube, wenn er keine Werke hat, tot, da er für sich allein steht. Die Werke sind eine notwendige Begleiterscheinung, eine unvermeidliche Frucht des wahren Glaubens. Ein falscher, heuchlerischer Glaube ohne Werke ist also kein Glaube; oder wenn man annehmen will, dass es einmal einen Glauben gab, so ist es gewiss, dass dieser Glaube gestorben ist und keine wirkliche Frucht in Form von guten Werken mehr hervorbringen kann. Ein Glaube allein, ohne gute Werke, ist einfach nicht denkbar.

    Der Apostel erwartet nun einen Einwand von Seiten einiger Leser: Es wird aber jemand sagen: Du hast Glauben; - ich habe auch Werke; - zeige mir deinen Glauben ohne Werke, und ich will dir meinen Glauben aus meinen Werken zeigen. Dies ist eine sehr anschauliche Darstellung in Form eines Dialogs. Jemand könnte den Einwand erheben: Behauptest du, dass du gläubig bist? und scheint damit die Sache in Zweifel zu ziehen. Aber der Verfasser würde mit seiner Antwort sofort zur Stelle sein: Ja, ich bin gläubig, und außerdem habe ich Werke, die das beweisen. Er könnte den Einwender sehr wohl auffordern, seinen Glauben ohne Werke zu beweisen, und dann würde er, der Verfasser, bald einen überzeugenden Beweis für die Existenz des wahren Glaubens in seinem Herzen liefern, nämlich die guten Werke, die die Frucht des Glaubens sind.

    In einer fast sarkastischen Art und Weise geht das Argument weiter, das gegen den Menschen mit einem unfruchtbaren Glauben vorgebracht wird: Du glaubst, dass Gott einer ist; das tust du gut; auch die Teufel glauben - und zittern. Willst du aber wissen, o eitler Mensch, dass der Glaube ohne Werke nutzlos ist? Das ist ungefähr der Umfang und der Inhalt des Glaubens, dessen sich der Widersprechende rühmen kann; er hat das Wissen des Verstandes und des Kopfes, das ihm sagt, dass es nur einen wahren Gott gibt, dass Gott seinem Wesen nach einer ist. Diese Erkenntnis ist gut genug, soweit sie reicht. Aber der rettende Glaube ist es ganz gewiss nicht; denn selbst die Teufel wissen so viel von Gott, dass der Herr ein einziger Herr ist; ja, sie haben eine sehr vollständige und genaue Kenntnis des Wesens und der Eigenschaften Gottes, Luk. 8,26 ff. Sie zittern und beben vor Gott, weil sie genau wissen, dass sie vor seiner allmächtigen Macht hilflos sind. Wer sich nun einbildet, den wahren Glauben zu besitzen, und über den Standpunkt der Teufel nicht hinausgekommen ist, der verlässt sich auf ein bloßes Kopfwissen ohne Werke, wie sie aus dem rettenden Glauben hervorgehen müssen, und hat daher gewiss eine vergebliche und leere Hoffnung, die ihn trägt. Anmerkung: Wo immer sich die Umstände so gestalten, wie sie in den Gemeinden, an die dieser Brief gerichtet ist, liegen, kann das Übel nur durch klares Reden, wie es der Apostel hier tut, mit Aussicht auf Erfolg bekämpft werden.

 

    Das Beispiel von Abraham und Rahab (V. 21-26): Der Apostel führt Beispiele aus dem Alten Testament an, um seine Argumentation zu veranschaulichen, und bezieht sich dabei zunächst auf eine Begebenheit im Leben Abrahams: Wurde nicht Abraham, unser Vater, durch Werke gerechtfertigt, als er seinen Sohn Isaak auf dem Altar opferte? 1. Mose 22,9. Abraham hatte von Gott den Befehl erhalten, seinen einzigen Sohn Isaak zu nehmen, mit ihm eine dreitägige Reise zu einem bestimmten Berg zu machen und ihn dort auf einem von ihm errichteten Altar zu opfern. Die Tatsache, dass Abraham das Gebot Gottes ohne Widerrede ausführte, war ein Beweis für seinen Glauben, Hebr. 11,17; mit anderen Worten, sein Werk, seinen Sohn zu opfern, war ein Beweis dafür, dass der rechtfertigende, rettende Glaube in seinem Herzen lebte. Daraus folgt: Du siehst, dass sein Glaube sich als eins mit seinen Werken erwies, und dass der Glaube aus den Werken heraus vollendet wurde. Abrahams Glaube wirkte in seinen Werken, in allem, was mit diesem Opfer zusammenhing, so dass beide in ihrer Wirksamkeit verbunden waren und sein Glaube durch seine Werke seinen endgültigen und endgültigen Beweis erhielt. Das heißt, jeder, der sah, wie Abraham dieses Werk vollbrachte, wie es ihm vom Herrn befohlen worden war, konnte nicht eine Minute lang daran zweifeln, dass in seinem Herzen wahrer Glaube lebte.

    Dass dies die Argumentation des Schreibers ist, zeigt der nächste Vers: Und es wurde erfüllt, was in der Schrift steht: Abraham glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet, und er wurde ein Freund Gottes genannt. Die Reihenfolge, die bei der Beurteilung des Glaubens zu beachten ist, lautet wie folgt: Abraham vollbrachte die ihm aufgetragene, sehr schwierige Aufgabe; dieses Werk konnte er nur durch den Glauben vollbringen; kraft dieses rettenden Glaubens wurde ihm die Gerechtigkeit des Messias zugerechnet, oder: sein Glaube wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet, 1. Mose 15,6; Röm. 4,3. Außerdem hat das Alte Testament Abraham aufgrund dieses Glaubensbeweises den Ehrentitel „Freund Gottes“ zuerkannt, 2. Chron. 20,7; Jes. 41,8. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist die Schlussfolgerung richtig: Man sieht, dass der Mensch aus Werken gerechtfertigt wird und nicht allein aus dem Glauben. Gute Werke sind nicht notwendig, um das Heil zu erlangen, aber sie sind notwendig als Beweis für das Vorhandensein des Glaubens im Herzen eines Menschen; denn wo sie zu finden sind, da kann man schließen, dass der wahre Glaube im Herzen lebt, und so rechtfertigen die Werke indirekt einen Menschen.

    Auch das Beispiel der Rahab wird angeführt: So auch Rahab, die Hure: Wurde sie nicht aus Werken gerechtfertigt, als sie die Boten aufnahm und sie auf einem anderen Weg aussandte? Die Tat Rahabs, die die Kundschafter, die in ihr Haus kamen, verbarg, war eine Tat des Glaubens, Hebr. 11,31. Es war dieser Glaube, der sie dazu veranlasste, die Boten zu verstecken und ihnen bei der Flucht aus der Stadt zu helfen. Dieses gute Werk bewies das Vorhandensein des rettenden Glaubens in ihrem Herzen, und so wurde sie aufgrund der Tat, die den Zustand ihres Herzens offenbarte, gerechtfertigt. So schließt der Apostel von dem Standpunkt aus, den er seinen Lesern hier nahebringen will, zu Recht: Denn wie der Körper ohne Atem tot ist, so ist der Glaube ohne Werke tot. Ein Leichnam mag in jeder Hinsicht wie ein lebendiger Mensch aussehen, alle Glieder und Organe sind vorhanden und scheinbar funktionstüchtig. Aber solange der Lebensatem, die Seele, fehlt, ist dieser Körper tot und bleibt tot. So kann sich auch ein Mensch rühmen, dass er den Glauben besitzt, und er kann sogar zu denen gehören, die das Wort Gottes hören. Aber wenn der Beweis der guten Werke fehlt, ist dieser Glaube unecht, heuchlerisch, wertlos. Echter Glaube ist niemals ohne gute Werke.

 

Zusammenfassung: Der Apostel warnt seine Leser vor einer unchristlichen Parteilichkeit, indem er behauptet, der Wille Gottes verlange Nächstenliebe gegenüber allen Menschen gleichermaßen; er zeigt, dass der Glaube das Korrelat der brüderlichen Liebe erfordert, und führt das Beispiel von Abraham und Rahab an, um zu zeigen, wie der Glaube seinen Beweis in guten Werken erbringt.

 

 

Martin Luther, Predigt von der zweifachen Gerechtigkeit

 

Gehalten über die Epistel am Palmsonntag, Philipper 2,5-6

1518

 

Übersetzt von Georg SpalatinB

 

Philipper 2,5-6: Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war, welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er’s nicht für einen Raub, Gott gleich sein.

    Liebe Brüder, so sollt ihr gegen einander gesinnt sein, wie ihr seht in Christus; welcher, da er wohl hätte können sich gegen uns gebärden wie ein Gott, hat er’s doch nicht getan, wie etliche tun, die, gleichsam sie der anderen Gott wollten sein, solches sich selbst zueignen und rauben, das ihnen doch nicht ziemt noch gebührt.

    1.  Es gibt zweierlei Gerechtigkeit der Christen, wie auch die Sünde der Menschen zweierlei ist. Die erste Gerechtigkeit ist eine fremde und von außen eingegossen, das ist die, durch welche der HERR Christus gerecht ist und durch den Glauben rechtfertigt; wie St. Paulus im ersten Brief an die Korinther im ersten Kapitel, Vers 30, spricht: „Der uns gemacht ist von Gott zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung.“ Denn der HERR Christus hat auch selbst, wie im Evangelium von St. Johannes im elften Kapitel, Vers 25, steht, gesagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben, wer an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit.“ Und abermals bei St. Johannes im Evangelium im 14. Kapitel, Vers 6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“

    2. Deshalb wird dieselbe Gerechtigkeit den Menschen in der Taufe gegeben und zu aller Zeit in der wahren Buße, so dass sich der Mensch mit  Vertrauen kann in dem HERRN Christus rühmen und freuen und sprechen: Das ist mein, was der HERR Christus gelebt, gehandelt, getan, geredet und gelitten hat und in der Folge gestorben ist, nicht anders, als wenn ich dasselbe Leben, Handeln, Wesen, Reden, Leiden und Sterben geführt und erlitten hätte, eben wie der Bräutigam alles das hat, das der Braut ist; und die Braut alles das hat, das des Bräutigams ist. Denn alles, das sie haben, ist ihnen beiden gemeinsam, denn sie sind ein einiges Fleisch; so sind der HERR Christus und die Kirche oder christliche Versammlung ein einiger Geist; Eph. 5,29 ff.; Gal. 3,28.

    3. So hat der gebenedeite Gott und Vater der Erbarmung, Gnade und Barmherzigkeit, wie St. Petrus sagt, 2. Brief 1,4, die allergrößten und kostbarsten Dinge uns in dem HERRN Christus geschenkt; und wie St. Paulus in dem zweiten Brief an die Korinther, Kapitel 1,3, und an die Epheser, Kapitel 1,3, schreibt: „Gelobt sei Gott und der Vater unsers HERRN Jesus Christus, der Vater der Erbarmung und Gott alles Trostes, der uns gesegnet hat mit allerlei geistlichem Segen in himmlischen Gütern durch Christus.“

    4. Diese Gnade und unaussprechlicher Segen sind vor Zeiten dem Abraham verheißen worden, 1. Mose 12,3; 22,28: „In deinem Samen, das ist, in Christus, sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde“; und Jesaja 9,6: „Ein Kind ist uns geboren, und ein Sohn ist uns gegeben.“ Er spricht „uns“; denn er ist der Unsere ganz mit allein seinen Gütern, wenn wir an ihn glauben; wie St. Paulus den Römern im 8. [Kapitel], V. 32 sagt: „Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegebene; wie sollte er uns denn nicht mit ihm alles schenken?“ Darum ist alles das unser, was der HERR Christus hat, das uns Unwürdigen und Unverdienten alles aus lauter Barmherzigkeit gnädig und umsonst geschenkt ist, weil wir doch nicht mehr als Zorn, Verdammnis und Hölle verdient hätten;  weshalb auch der HERR Christus, der da sagt, dass er gekommen sei, den allergütigsten Willen seines Vaters zu tun, Joh. 6,38; Hebr. 10,9, ist ihm gehorsam geworden, und alles, was er getan hat, hat er uns getan, und hat wollen unser sein, sprechend, Luk. 22,27: „Ich bin mitten unter euch als ein Diener.“ Und weiter, Luk. 22,19: „Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird“, oder verraten. So sagt Jesaja im 43. Kapitel, V. 24, auch: „Du hast mich zum Diener gemacht mit deinen Sünden und hast mir Mühe gemacht in deinen Missetaten.“

    5. Deshalb wird durch den Glauben an Christus die Gerechtigkeit Christi unsere Gerechtigkeit, und alles, das sein ist; ja, er wird selbst der Unsere. Demnach nennt sie St. Paulus in der Epistel an die Römer im ersten [Kapitel], V.17: „die Gerechtigkeit Gottes“. Die Gerechtigkeit wird offenbart und entdeckt im Evangelium, wie geschrieben steht: „Der Gerechte lebt seines Glaubens“; Hab. 2,4; Hebr.10,38. So wird auch ein solcher Glaube genannt die Gerechtigkeit Gottes, wie St. Paulus meldet in der berührten Epistel an die Römer im 3. [Kapitel], V. 28: „So halten wir es nun, dass der Mensch gerecht werde allein durch den Glauben.“

    6. Dieses ist die unendliche Gerechtigkeit, die alle Sünden im Augenblick verzehrt; denn es ist unmöglich, dass eine Sünde in oder an Christus hafte und hänge. Aber wer an Christus glaubt, der haftet an ihm und ist ein einiges Ding mit Christus; hat auch eine einige Gerechtigkeit mit ihm. Darum ist es unmöglich, dass in ihm Sünde bleibe.

    7. Und dies ist die erste Gerechtigkeit, der Grund, Ursache und Ursprung aller eigenen oder aber wirklichen Gerechtigkeit. Denn sie wird wahrhaftig gegeben für die erste und ursprüngliche Gerechtigkeit, die in dem Adam verloren ist, und wirkt eben das, ja mehr, als diese ursprüngliche Gerechtigkeit gewirkt hat.

    8. So wird verstanden dieser Spruch in dem 31. Psalm, V. 2: „HERR, auf dich traue ich, lass mich nimmermehr zu Schanden werden; errette mich durch deine Gerechtigkeit.“ Er spricht nicht „in meiner“, sondern „in deiner“, das ist, in der Gerechtigkeit Christi, meines Gottes, die durch den Glauben, durch die Gnade, durch die Barmherzigkeit Gottes unser geworden ist. Und die heißt im Psalter an vielen Enden „das Werk des HERRN“, „das Bekenntnis“, „die Kraft oder Stärke Gottes“, die „Barmherzigkeit“, „die Wahrheit“, „die Gerechtigkeit“. Denn dies sind alles Namen des Glaubens und Vertrauens auf den HERRN Christus, ja, der Gerechtigkeit, die in Christus ist. Deshalb St. Paulus in der Epistel an die Galater (2,20) sagen darf: „Ich lebe, doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir“; und an die Epheser im 3. Kapitel, V. 17: „Damit er gebe euch, Christus zu wohnen durch den Glauben in euren Herzen.“

    9. Darum ist das eine fremde Gerechtigkeit und ohne unsere Werke, allein durch die Gnade uns eingegossen, wenn uns inwendig der himmlische Vater zu dem Sohn Christus zieht; und wird entgegengesetzt der Erbsünde, welche auch eine fremde ist, ohne unsere Handlung, allein durch die Geburt an uns gewachsen, geflossen und gekommen. …

    10. Die andere Gerechtigkeit ist unser und eigen; nicht darum, dass wir sie allein wirken, sondern dass wir zusammen mit der ersten, fremden wirken; das ist die gute Übung in den guten Werken, erstens in der Tötung und Verzehrung des Fleisches und der Kreuzigung der Begierden gegen sich selbst; wie St. Paulus an die Galater (5,24) schreibt: „Welche aber Christus angehören, die kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden“; zweitens in der Liebe gegen den Nächsten; drittens in der Demut und Furcht gegen Gott. Davon sind der Apostel St. Paulus und alle Heilige Schrift voll. Aber St. Paulus umfasst das alles kurz in der Epistel an Titus im 2. Kapitel, V. 12, und spricht: „Züchtig“, das ist, gegen sich selbst in der Kreuzigung des Fleisches, und „gerecht“, als gegen den Menschen, „und gottselig“, als gegen Gott, sollen wir in dieser Welt leben.

    11. Diese Gerechtigkeit ist ein Werk, Frucht und Folge der ersten Gerechtigkeit, wie St. Paulus an die Galater (5,22) schreibt: „Die Früchte aber des Geistes – das ist, des geistlichen Menschen, der durch den Glauben in Christus wird – sind: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit“ usw. Denn der geistliche Mensch wird an demselben Ort der Geist genannt: Welches aus diesem erkennbar wird, dass dieselben Früchte sind Werke des Menschen. Und Joh. 3,6: „Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist.“ Diese Gerechtigkeit vollzieht … die erste Gerechtigkeit, denn sie arbeitet und bemüht sich allezeit, auf dass der Adam verderbt und der Leib der Sünde zerstört werde. Darum hasst sie sich selbst und liebt den Nächsten; sie sucht nicht das Ihre, sondern was einem andern dienstlich, gut und förderlich ist. Und in dem steht all ihr Wesen und Übung; denn in dem, dass sie sich selbst hasst und nicht das Ihre sucht, macht sie sich eine Kreuzigung des Fleisches; dass sie aber eines andern Frommen und Förderung sucht, wirkt sie die Liebe. Und so tut sie in den beiden den Willen Gottes, dass sie gegen sich selbst züchtig, gegen den Nächsten gerecht und gegen Gott gottselig lebt.

    14. Und in dem folgt sie dem Vorbild und Beispiel Christi, 1. Petr. 2,21, und wird gleichförmig seinem Bildnis. Denn dieses fordert Christus auch, eben da er alle Dinge für uns getan und nicht das Seine, sondern allein das Unsere gesucht, und in dem Gott aufs allergehorsamste gewesen ist, so will er, dass wir dies Beispiel auch gegen unseren Nächsten erzeigen sollen. Diese Gerechtigkeit wird entgegengesetzt der werklichen und unserer eigenen Sünde, wie zu den Römern im 6. Kapitel, V. 19: „Gleichwie ihr eure Glieder begeben habt zu Dienst der Unreinigkeit und von einer Ungerechtigkeit zu der andern; so begebt nun auch eure Glieder zu Dienst der Gerechtigkeit, dass sie heilig werden.“

    13. Deshalb entsteht durch die erste Gerechtigkeit die Stimme des Bräutigams, der da spricht zu der Seele: Ich der Deine; aber durch die andere Gerechtigkeit die Stimme der Braut, die da sagt: Ich die Deine. Alsdann ist gemacht die feste, vollkommene und verbrachte Ehe, wie in Canticis oder dem Hohelied steht, Kap. 2,16: „Mein Freund ist mein und ich bin sein“; als spräche sie: Mein Geliebter ist mein und ich bin die Seine. So sucht denn die Seele nicht weiter aus sich selbst gerecht zu sein, sondern ihre Gerechtigkeit, Christus; deshalb sucht sie allein der andern Seligkeit. …

    14. Das ist das, was unser Text sagt: „Das empfindet in euch, was auch in Christus Jesus war“; das ist, so sollt ihr gegen andere gesinnt sein und tun, wie ihr seht, dass Christus gegen euch gewesen ist. Wie? „Welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er’s nicht für einen Raub, Gott gleich sein; sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an.“

    15. Die Form oder Gestalt Gottes wird allhier nicht genannt die Substanz oder das selbständige Wesen Gottes; denn dessen hat Christus sie nie entledigt und entäußert; wie auch nicht die Form des Knechtes die menschliche Substanz und Selbständigkeit kann genannt werden; sondern „die Form Gottes“ ist die Weisheit, Macht, Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Freiheit, also, dass Christus Mensch ist gewesen, frei, mächtig, weise, niemand unterworfen, weder den Sünden noch den Lastern untertänig, wie alle Menschen sind. Denn er ist mit den Formen vortrefflich gewesen, die Gott am allermeisten ausmachen; dennoch ist er in derselben Form nicht hoffärtig gewesen, hat nicht damit gegen uns sich gebärdet oder gestellt, noch andere verachtet und verschmäht, die Knechte gewesen sind und mancherlei Übel unterworfen; wie der Pharisäer oder Gleisner,  der da sagt, Luk. 18,11: „Ich sage dir Dank, dass ich nicht bin wie die andern Menschen“; der darin einen Wohlgefallen hatte, dass die andern unselig waren, und je nicht wollte, dass sie ihm gleich wären. Und dieses ist der Raub, damit sich der Mensch anmaßt, ja, vorbehält, was er hat, und es nicht rein Gott, dessen es ist, zuschreibt, und damit den andern nicht dient, damit er sich ihnen gleich mache. Und so wollen sie, gleichwie Gott, sich selbst genügen, sich selbst gefällig, in sich ruhmbegierig und niemand verpflichtet sein.

    16. Aber der HERR Christus hat nicht diese Meinung gehabt, hat nicht diese Weisheit gehabt; sondern hat diese Form Gott dem Vater zugeschrieben und überreicht, und sich derselben entledigt und entäußert, hat dieselben Titel gegen uns nicht wollen gebrauchen, hat uns nicht ungleich und unähnlich sein sollen. Ja, er ist vielmehr geworden gleich wie einer von uns und hat die Form des Knechts angenommen, das ist, er hat sich allen Übeln unterworfen, wiewohl er frei war, wie auch St. Paulus spricht, 1. Kor. 9,19: „Er ist geworden ein Knecht aller Menschen“, und hat sich nicht anders gestellt, sondern als wären dieselben Übel und Beschwerden alle sein eigen, die unser waren. Darum hat er sich unserer Sünde und Pein angenommen und so gehandelt, dass er sie überwunden, als gehörten sie ihm selbst; so er sie doch uns zugut und Heil überwunden hat, so dass, wiewohl er um unsertwillen so getan war, dass er unser Gott und unser Herr hätte sein mögen; dennoch hat er es nicht tun wollen, sondern lieber unser Knecht sein wollen; wie an die Röm4er im 15. Kapitel, V. 3 steht: Wir sollen uns nicht selbst gefällig sein; denn der HERR Christus war nicht sich selbst gefällig; sondern wie geschrieben steht Ps. 69,10: „Die Schmach derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen“; welches eine gleiche Meinung ist mit der berührten.

    17. Daraus folgt, dass dieser Spruch soll negativ, das ist, verneinend verstanden werden, den viel Leute affirmativ, das ist, behauptend verstanden haben: So, dass der HERR Christus hat sich Gott nicht gleich geachtet, das ist, er hat nicht Gott gleich sein wollen; so wie die tun, die sich des mit Hoffart unterwinden, die zu Gott sprechen: Wenn du mir deine Ehre nicht wirst geben, wie St. Bernhardus sagt, so will ich sie selbst nehmen. Und nicht affirmativ, das ist, behauptend, so nämlich, er hat nicht geachtet, sich Gott gleich sein; das ist, dass er Gott gleich ist, das hat er nicht für einen Raub gehalten. Denn diese Meinung hat nicht einen bequemen Verstand, wenn er gesagt ist von Christus, dem Menschen.

    18. Das ist des Apostels Meinung, dass ein jeglicher Christenmensch soll, dem Beispiel Christi nach, eines andern Christenmenschen Knecht werden. Und wenn einer Weisheit, Gerechtigkeit oder Gewalt hat, damit er die andern mag übertreffen und sich über sie erheben, wie in den Formen Gottes; so soll er das nicht behalten, sondern das Gott wieder darreichen, zuschreiben und übergeben, und allenthalben dermaßen werden, als hätte er dieselben gar nicht, und soll werden wie deren einer, die das nicht haben, so, dass ein jeder seiner selbst vergesse und, von den Gaben Gottes entledigt, mit seinem Nächsten der Meinung und Gestalt umgehe und handle, als wäre die Schwachheit, Sünde und Torheit des Nächsten sein eigen. Er soll nicht rühmen noch brüsten, noch ergeben, weder diesen noch jenen verachten, noch über ihn triumphieren, als wäre er sein Gott und als wäre er Gott gleich; welches, weil man es Gott allein lassen soll, so geschieht durch einen solchen Menschen und durch den hochmütigen Frevel ein Raub.

     19. Deshalb wird die Form des Knechts so genommen und dieser Spruch St. Pauli an die Galater im 5. Kapitel, V. 13, erfüllt: „Ihr sollt durch die Liebe einer dem andern dienen“; und an die Römer im 12. Kapitel, V. 4.5, und im ersten Brief an die Korinther im 12. Kapitel, V. 12 ff., durch das Gleichnis von den Gliedmaßen des Leibes lehrt er, wie die starken, gesunden, ehrbaren Gliedmaßen nicht Hoffart treiben gegen die geringeren, als beschwerten sie diese und als wären sie ihre Götter; sondern sie dienen ihnen vielmehr und vergessen ihre eigene Herrlichkeit, Gesundheit und Gewalt. Denn so dient kein Glied des Leibes sich selbst, sucht auch nicht seinen eigenen Genuss, sondern des andern; und das umso viel mehr, so viel schwächer, kränker und unehrbarer es ist. Und damit ich St. Paulus gebrauche, 1. Kor. 12,5: „die Glieder sorgen für einander in gleicher Weise“, damit keine Empörung und Unfriede im Leib sei. Woraus nun offenbar ist, wie man sich in allen Sachen gegen den Nächsten halten und erzeigen soll.

    20.C Es ist nämlich jene Lehre auszuüben: „Alles, was ihr wollt, dass auch die Menschen tun sollen, das tut auch ihnen.“ Z.B.: Wenn ihr von eurem Nächsten beleidigt worden seid, so kommt euch gleich der Gedanke, Rache und Wiedervergeltung zu suchen, denn das ist der Natur aus Adam ähnlich. Hier zeigen sich solch beide Formen, nämlich die Gerechtigkeit im Beleidigten und die Ungerechtigkeit im Beleidiger. Wenn hier nun die Natur das Übergewicht bekäme, was würde geschehen? Da sie sich nämlich selbst gefällt, so wird sie gegen den Beleidiger entbrennen, ihn gleichsam durch ein Urteil als einen Ungerechten verwerfen und richten und verdammen; so handelt er vermessen alles gegen sich, was doch Sache Gottes ist; denn Gott ist die Ehre, die Rache und das Gericht, nach Röm. 12,19: „Mein ist die Rache, ich will vergelten, spricht der HERR; und Joh. 8,50: „Es ist einer, der da sucht und richtet.“

    21. Hier also wird der Mensch ein Blutmensch, zornig, neidisch, ungeduldig, und vergisst unterdessen ganz und gar, dass auch er in so vielen und ganz andern Dingen Gott und Menschen beleidigte. Und doch möchte er nicht in einem einzigen davon mit sich so gehandelt haben, wie er bei dieser einzigen Sache mit seinem Nächsten handelt; er möchte nicht gerächt, gerichtet und zu Schanden gemacht sein.

    22. Zum zweiten, so schaut er auch nicht auf das Vorbild Christi, der um des willen, dass er so vielfältig beleidigt wurde, nicht nur keine Wiedervergeltung gegen solchen übte, sondern auch noch mit ihm als einem armen, unverständigen Menschen Mitleid hatte und sich so seiner Form unterwarf. Er tat mit der Sünde, mit der er beleidigt wurde, der eigenen Form vergessend, nicht anders, als ob er sie selber getan hätte.

    23. Zum dritten sieht er [der Mensch] nicht, dass der Beleidiger sein Nächster, gleichsam sein eigenes krankes, unehrbares und zu heilendes Glied ist, mit dem er, als des Mitleids und er Heilung bedürftig, mehr Barmherzigkeit haben sollte, als dass er es durch die Schärfe der Gerechtigkeit erbittere und zu Schanden mache. Denn so werden auch wir von Christus getragen und nicht erbittert, den wir doch mit 500 Pfund, das ist, mit weit größeren Schwachheiten und Beleidigungen, kränken, wo unser Nächster uns kaum mit 50 Groschen, das ist, mit weit geringeren Beleidigungen, kränkt und reizt. Dazu zwingt uns auch das Vaterunser: „Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“

    24. Und wenn wir diese Formen Gottes nicht gerne und mit Willen ausziehen und die Formen des Knechts antun wollen, so werden wir dazu gezwungen werden und gegen unsern Willen ausgezogen und derselben entblößt werden; davon die Historie und Geschichte des Lukas im 7. Kapitel, V. 39 ff., bekannt ist, da Simon, der PharisäerD, in der Form Gottes und seiner Gerechtigkeit sitzend, die Maria MagdalenaE, in der die Form des Knechts war, hochmütig verurteilte und verachtete. Aber siehe den Richter an: Der HERR Christus zog ihm die Form der Gerechtigkeit bald aus und zog ihm an die Form der Sünde uns sprach: „Du hat mir den Kuss nicht gegeben, du hast mein Haupt nicht gewaschen.“ Siehe, wie große Sünde, die er nicht sah; er hielt es auch nicht dafür, dass er mit einer hässlichen Form ungestaltet wäre; seine guten Werke sind in keinem Gedächtnis, der HERR Christus weiß die Form Gottes nicht, in welcher Simon der PharisäerF sich selbst gefällt, sich gebrüstet und Hochmut getrieben hat. Der HERR Christus erzählt und meldet nicht, dass er von ihm geladen, gespeist und geehrt worden sei. Der PharisäerG Simon ist nun nichts als ein Sünder, der sich selbst für so einen gerechten Menschen hielt; ihm ist genommen worden die Ehre der Form Gottes, er sitzt geschändet und zu Schanden gemacht in der Form des Knechts, er wolle oder wolle nicht. Aber wiederum, die Maria Magdalena hat der HERR geehrt mit der Ehre Gottes und die Sünden ihr abgelegt und sie über den Simon erhoben und gesprochen: „Diese hat meine Füße gesalbt, geküsst, mit Zähren benetzt und mit ihren Haaren getrocknet.“ Siehe, wie großes Verdienst, das weder sie noch Simon sah; ihre Sünden sind in keinem Gedächtnis, der HERR Christus weiß die Form der Dienstbarkeit an ihr nicht, welche er mit der Form der Herrschaft groß gemacht hat. Und die Maria Magdalena ist nichts anders als eine Gerechte und Erhöhte in der Ehre und Glorie der Form Gottes.

    25. So wird er uns allen tun, so oft wir uns der Gerechtigkeit oder Weisheit oder Gewalt erheben und zürnen gegen die Ungerechten, Narren und die weniger mächtig als wir sind; alsdann, welches die allergrößte Gefahr ist, wirkt die Gerechtigkeit gegen die Gerechtigkeit, die Weisheit gegen die Weisheit und Gewalt gegen Gewalt. Denn du bist darum mächtig und gewaltig, dass du die Ungewaltigen nicht ungewaltiger machst mit Unterdrückung, sondern sie mächtiger machst mit Erhebung und Errettung; und darum bist du weise, nicht dass du der Unweisen spottest und sie närrischer machst, sondern sie annehmest und unterweisest, wie du es für dich selbst wolltest. So bist du gerecht, auf dass du den Ungerechten rechtfertigst und entschuldigst, nicht dass du ihn allein verdammst oder verurteilst, ihm nachredest, ihn richtest und rächst. Denn diese ist das Vorbild des HERRN Christus gegen uns, da er gesagt hat: „Der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, dass er die Welt richte, sondern dass di Welt durch ihn selig werde“, Joh. 3,17; und wiederum Luk. 9,55: „Ihr wisst nicht, welches Geistes Kinder ihr seid; des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten.“

    26.  Aber die stürmische Natur sperrt sich dagegen; denn sie hat große Lust und Willen zur Rache und zu der Ehre eigener Gerechtigkeit und in der Schande der Ungerechtigkeit ihres Nächsten. Darum treibt und handhabt sie ihre eigenen Sachen und erfreut sich, dass ihre Sache besser ist als des Nächsten und verfolgt die Sache des Nächsten und begehrt, dass sie arg und böse sei, der Liebe entgegen und widerwärtig, „die da nicht das Ihre sucht“, 1. Kor. 13,5, sondern des andern Vorteil, Frommen und Ehre. Denn der Mensch soll sich betrüben, dass seines Nächsten Sache nicht besser ist als seine eigene Sache, und wünschen, dass eines andern Sache besser als seine eigene Sache wäre, nicht mit weniger Freude, als wenn er sich freut, dass seine eigene Sache besser als seines Nächsten Sache sei: Denn dies ist das Gesetz und die Propheten.

    27. Aber du sprichst: Gebührt sich denn nicht, Böses zu strafen? Ziemt sich nicht, Sünde zu büßen? Wer ist nicht schuldig, die Gerechtigkeit zu handhaben? Das wäre Ursache zu Sünden und Übel zu tun geben.

    28. Ich antworte so: Allhier kann nicht eine schlichte Antwort gegeben werden; deshalb muss man einen Unterschied von den Menschen machen: Denn es sind die Leute entweder öffentliche oder gemeinde oder besondere (private). Die öffentlichen oder gemeinen Menschen, das ist, die in Gottes Amt sind, geht das, so gesagt ist, nichts an. Denn ihnen gebührt von Amts und Not wegen, die Bösen zu strafen und richten und die Unterdrückten und Beschädigten zu handhaben; denn sie tun das nicht, sondern Gott, dessen Diener und Knechte sie in diesem sind, wie St. Paulus an die Römer im 13. Kapitel, V. 4, in die Weite anzeigt und spricht: „Denn die Gewalt oder Obrigkeit trägt das Schwert nicht vergeblich.“ Aber dieses soll verstanden werden in der anderen Leute Sachen und nicht in eigenen Sachen. Denn niemand ist Gottes Statthalter von wegen sein selbst und des Seinen, sondern um der andern willen. Wenn aber die Gewalt oder Obrigkeit eine eigene Sache hat, so soll sie einen andern Statthalter Gottes als sich selbst suchen. Denn in solchem Fall ist sie nicht ein Richter, sondern ein Teil (Partei). Aber davon reden andere auch sonst und andere Meinung, denn diese Sache ist weitläufiger als sie jetzt kann erzählt werden.

    29. Aber besonderer und eigener Sache Menschen sind dreierlei. Die ersten, die die Rache, das Gericht und Urteil bei den Statthaltern Gottes suchen; und derselben ist jetzt ein merklicher Haufe und Anzahl: Diese duldet Paulus; aber er lobt sie nicht, an die Korinther, 1. Brief 6,12: „Ich hab es alles Macht; es frommt aber nicht alles“; ja, er spricht an demselben Ort, V. 7.8: „Es ist schon ein Fehler unter euch, dass ihr miteinander rechtet.“ Aber dennoch, um eines größeren Übels willen wird dieses kleinere Übel erduldet, auf dass sich die Leute nicht selbst rächen, und einer dem andern Gewalt erzeige, Übel gegen Übel zu beweisen oder aber das Seine wieder zu fordern. Aber dieselben werden in das Reich Gottes nicht gehen, sie werden denn zur Besserung verwandelt und verlassen die gebührlichen oder nachgelassenen Dinge und folgen den Dingen nach, die da dienen; denn die Neigung seines eigenen Nutzens muss vertilgt werden.

    30. Es sind andere Menschen, welche die Rache nicht begehren, ja, sie sind bereit und willig, nach Unterweisung des Evangeliums, Matth. 5,40, „dem, der ihnen den Mantel nimmt, den Rock auch zu lassen“, und tun keinen Widerstand einigem Übel; diese sind Kinder Gottes, Brüder Christi und Erben der zukünftigen Güter. Deshalb werden sie in der Heiligen Schrift genannt Waisen, Witwen, Arme, deren Vater und Richter Gott hat wollen genannt werden darum, dass sie sich selbst nicht rächen, Ps. 68,6. Ja, wenn die Obrigkeit sie rächen will, entweder solches nicht begehren noch suchen, oder aber allein gestatten; oder, wenn sie ganz vollkommen sind, es wehren und hindern, sind bereit, lieber und eher andere Dinge auch zu verlieren. Wenn du sagst: Dergleichen Leute sind überaus wenig, und wer könnte in dieser Welt bleiben, wenn er dieses täte? Da antworte ich so: Es ist jetzt nicht neu, dass wenig Leute selig werden, und dass die Pforte, so zu dem Leben führt, eng ist und diese wenig Leute finden, Matth. 7,14. Und wenn es niemand täte, wie bestände die Schrift, welche die Armen, Witwen und Waisen das Volk Christi nennt? Deshalb denselben Menschen die Sünde ihrer Beleidiger weher tut, als dass sie ihre Beleidigungen und Beschwerungen rächen; deshalb ziehen sie die Form ihrer Gerechtigkeit aus, ziehen ihrer Feinde und Verfolger Form an und bitten für die, so sie verfolgen, sagen denen Gutes nach, die ihnen übel reden, tun den Übeltätern Gutes und sind bereit und willig, für ihre eigenen ‚Feinde die Strafe zu leiden und genug zu tun, auf dass sie selig werden. Und dieses ist das Evangelium, Beispiel und Vorbild des HERRN Christus, Matth. 5,43.

    31. Die dritten Menschen sind, die mit der Meinung und dem Willen, wie die zweiten und eben berührten sind, aber mit dem Werk anders geschickt. Das sind, die das Ihre nicht wieder fordern, oder nicht Rache suchen oder begehren darum, dass sie das Ihre suchen; sondern dass sie durch diese Rache suchen die Wiedergebung oder Besserung oder Rechtfertigung des Räubers, Entfremders oder Beleidigers. Denn sie sehen, dass sie ohne Strafe nicht können gebessert und gerechtfertigt werden. Diese werden genannt Zelosi, das ist, die Rechtbegierigen, die gerne wollen, dass das Unrecht und Bosheit ungestraft bliebe, und werden in der Heiligen Schrift gelobt. Aber des soll sich niemand unterstehen, er sei denn in dem eben gezeigten zweiten Grad vollkommen und ganz geübt, damit er nicht den grimmigen Zorn für den billigen und löblichen Zorn erwische; und da er sich lässt bedünken, er tue es aus Liebe der Gerechtigkeit, erfunden werde, mehr aus Zorn und Ungeduld getan zu haben. Denn der Zorn ist dem billigen Unwillen gleich und die Ungeduld der Liebe der Gerechtigkeit; so dass eines vor dem andern von niemandem als von den allergeistlichsten Leuten, kann unterschiedlich erkannt werden. Ein solches Werk hat der HERR Christus getan, wie Joh. Im 2. Kapitel, V. 15.16, steht, als er Geißeln machte, die Verkäufer und Käufer aus dem Tempel trieb; und St. Paulus, als er an die Korinther schrieb, 1. Kor. 4,21: „Ich werde mit der Rute zu euch kommen.“

 

 

Kapitel 3

 

Vorsicht im Blick auf falsche Aktivitäten zum Lehren

und im Blick auf den Gebrauch der Zunge (3,1-18)

    1 Liebe Brüder, unterwinde sich nicht jedermann, Lehrer zu sein; und wisst, dass wir desto mehr Urteil empfangen werden. 2 Denn wir fehlen alle mannigfaltig. Wer aber auch in keinem Wort fehlt, der ist ein vollkommener Mann und kann auch den ganzen Leib im Zaum halten. 3 Siehe, die Pferde halten wir in Zäumen, dass sie uns gehorchen, und lenken den ganzen Leib. 4 Siehe, die Schiffe, ob sie wohl so groß sind und von starken Winden getrieben werden, werden sie doch gelenkt mit einem kleinen Ruder, wo der hin will, der es regieret. 5 So ist auch die Zunge ein kleines Glied und richtet große Dinge an. Siehe, ein kleines Feuer, welch einen Wald zündet’s an! 6 Und die Zunge ist auch ein Feuer, eine Welt voll Ungerechtigkeit. So ist die Zunge unter unseren Gliedern und befleckt den ganzen Leib und zündet an allen unseren Wandel, wenn sie von der Hölle entzündet ist.

    7 Denn alle Natur der Tiere und der Vögel und der Schlangen und der Meerwunder werden gezähmt und sind gezähmt von der menschlichen Natur; 8 aber die Zunge kann kein Mensch zähmen, das unruhige Übel voll tödlichen Giftes. 9 Durch sie loben wir Gott den Vater, und durch sie fluchen wir den Menschen, nach dem Bild Gottes gemacht. 10 Aus einem Mund gehen Loben und Fluchen. Es soll nicht, liebe Brüder, so sein. 11 Quillet auch ein Brunnen aus einem Loch süß und bitter? 12 Kann auch, liebe Brüder, ein Feigenbaum Öl oder ein Weinstock Feigen tragen? So kann auch ein Brunnen nicht salziges und süßes Wasser geben.

    13 Wer ist weise und klug unter euch? Der erzeige mit seinem guten Wandel seine Werke in der Sanftmut und Weisheit. 14 Habt ihr aber bitteren Neid und Zank in eurem Herzen, so rühmt euch nicht und lügt nicht gegen die Wahrheit. 15 Denn das ist nicht die Weisheit, die von oben herab kommt, sondern irdisch, menschlich und teuflisch. 16 Denn wo Neid und Zank ist, da ist Unordnung und eitel böses Ding. 17 Die Weisheit aber von oben her ist aufs erste keusch, danach friedsam, gelinde, lässt sich sagen, voll Barmherzigkeit und guter Früchte, unparteiisch, ohne Heuchelei. 18 Die Frucht aber der Gerechtigkeit wird gesät im Frieden denen, die den Frieden halten.

 

    Die Gefahr des Lehrens und des zu vielen Sprechens (V. 1-6): Es scheint, dass in vielen der Gemeinden, die größtenteils aus Judenchristen bestanden, der Brauch übernommen worden war, fast jedem, der es wünschte, das Reden zu erlauben. Das war in mehr als einer Hinsicht eine gefährliche Praxis, und deshalb schreibt der Apostel: "Werdet nicht viele Lehrer, meine Brüder, da ihr wisst, dass wir (als solche) die strengere Verurteilung empfangen werden. In den jüdischen Synagogen, besonders in der Dispersion, in den Städten außerhalb Palästinas, gab es wenig Beschränkung in Bezug auf Lehrer; fast jeder, der gehört werden wollte, wurde gehört. Aber während alle Gläubigen Könige und Priester vor Gott und dem Herrn Jesus sind, sind sie nicht alle Lehrer der Gemeinde, sie dürfen sich nicht alle das Amt des Predigers anmaßen. Unter solchen Umständen bestand aber nicht nur die Gefahr, dass die Botschaft des Evangeliums nicht die gebührende Aufmerksamkeit erhielt, sondern die Redner neigten auch dazu, sich von persönlichen Dingen leiten zu lassen, was zur Folge hatte, dass die Reden in den gemeinsamen Versammlungen zuweilen alles andere als erbaulich waren. Es war daher notwendig, die unbefugten Lehrer daran zu erinnern, dass die auf dem Amt ruhende Verantwortung und die Rechenschaft, die die Lehrer am letzten Tag ablegen müssen (Hebr. 13,17), die Strafe, die über sie verhängt wird, umso härter machen würde.

    Der Apostel begründet nun die Strenge seiner Zurechtweisung: Denn wir sündigen vielfältig, wir alle. Wenn ein Mensch nicht im Wort sündigt, ist er ein vollkommener Mensch, der auch den ganzen Leib im Zaum zu halten vermag. Der allgemeine Lauf des Lebens kann als Weg bezeichnet werden und jede einzelne Handlung als Schritt; daher kann jedes Vergehen, jede Verfehlung oder Übertretung als Stolpern bezeichnet werden. Alle Menschen ohne Ausnahme machen sich eines solchen Stolperns schuldig, selbst die besten Christen unterliegen den Sünden der Schwäche. Indem Jakobus nun diese allgemeine Wahrheit auf den vorliegenden Fall anwendet, erklärt er, dass ein Mensch, der seine Rede jederzeit beherrscht und niemals auch nur durch ein einziges Wort Anstoß erregt, durchaus als vollkommener Mensch angesehen werden kann, denn die Fähigkeit, die Zunge zu beherrschen, spricht zumindest für die Wahrscheinlichkeit, dass er den ganzen Körper beherrscht und alle Glieder vor Sünde bewahrt. Wenn ein Mensch in der Lage ist, die schwierigere Aufgabe zu bewältigen, wird er wenig Mühe mit der vergleichsweise leichten haben.

    Aber die Schwierigkeit, die Zunge zu beherrschen, wird nun an zwei Beispielen gezeigt. Zum einen schreibt der Apostel: Wenn wir aber den Pferden Gebisse ins Maul geben, damit sie uns gehorchen, und wir lenken ihren ganzen Körper. Das war ein Beispiel, das seinen Lesern bekannt war und das sie verstanden. Die Pferde werden mit Hilfe der Gebisse, die ihnen ins Maul gesteckt werden, angetrieben und unter Kontrolle gehalten, wobei der Treiber lediglich an den Zügeln zieht, um den Kopf der Pferde in jede beliebige Richtung zu lenken. In einem anderen Fall ist die Leichtigkeit der Steuerung noch offensichtlicher und ebenfalls wunderbar: Siehe auch die Schiffe, obwohl sie so groß sind und außerdem von heftigen Winden umhergeworfen werden, werden doch mit einem sehr kleinen Ruder gelenkt, so wie es der Geist des Steuermanns will. Diese Tatsache zeigt sich in unseren Tagen noch mehr als in den Zeiten der kleinen Schiffe. Schiffe von vielen tausend Tonnen Verdrängung gehorchen dem geringsten Druck des Steuermanns oder einer leichten Drehung des Rades auf der Brücke. Selbst bei unruhiger See hat der Lotse oder Offizier wenig Mühe, den Kurs des Schiffes so zu steuern, wie er es für richtig hält, solange der Steuerapparat in Ordnung ist und das Ruder nicht bricht. Es ist ein Wunder an menschlichem Einfallsreichtum, ein großes Schiff mit so winzigen Geräten im Vergleich zu seiner Größe unter Kontrolle zu halten.

    Der Apostel macht nun die Anwendung: So ist auch die Zunge ein kleines Glied und rühmt sich doch großer Taten. Der Schreiber spricht von der Zunge, als ob sie eine eigene Persönlichkeit hätte und ihre Macht durch bewusstes Handeln ausnutzen würde. So klein sie unter den Gliedern des Leibes auch ist, so kann sie sich doch rühmen, große Taten zu vollbringen. Im Vergleich dazu ruft der Apostel erneut aus: Seht, welch kleines Feuer, welch ein Wald, den es entfacht! oder: Welch unermessliches Feuer, welch unermesslicher Wald, den die Zunge entfacht! Es bedarf nur eines kleinen Feuers, eines unachtsam weggeworfenen brennenden Streichholzes, um ein Feuer zu entfachen, das viele Quadratkilometer Wald verzehren kann. Und so ist auch die zerstörerische Kraft der Zunge: Auch die Zunge ist ein Feuer, eine Welt der Ungerechtigkeit; die Zunge tritt aus unseren Gliedern hervor, und sie befleckt den ganzen Körper und entflammt das Rad der Natur und wird selbst von der Hölle entflammt. Wie der kleine Feuerbrand, der den verheerenden Waldbrand verursacht, so ist auch die Zunge in ihrem ungezügelten Zustand. Sie ist eine Welt der Ungerechtigkeit, sie wirkt eine Welt des Unheils, ihr ganzer Bereich wird zu dem der Ungerechtigkeit, wenn sie ihre Übertretungen beginnt. Die Zunge tritt aus der Mitte der Glieder hervor, sie übernimmt die Führung unter ihnen, sie beherrscht sie, sie zwingt sie, ihren Willen zu tun. So gelingt es ihr, den ganzen Leib zu beflecken, alle Glieder zu verunreinigen; sie setzt das Rad der Natur in Bewegung und entflammt den ganzen Kreislauf der angeborenen Leidenschaften, der Eifersucht, der Verleumdung, der Lästerung und aller niederen Taten. Wahrlich, die Zunge ist, wenn man ihr erlaubt, ungehindert ihren Lauf zu nehmen, von der Hölle entflammt, sie ist in der Gewalt des Satans selbst.

 

    Warnung vor dem Missbrauch der Zunge (V. 7-12): Es mag vielleicht den Anschein haben, dass der Redner hier von seinem Thema mitgerissen wird; aber jeder, der die schreckliche Wirkung von Verleumdung und Diffamierung beobachtet hat, die in unseren Tagen wie vor Hunderten von Jahren betrieben wird, wird nur sagen, dass der Apostel im Vergleich dazu spricht. In heiliger Entrüstung schreit er auf: Denn alle Tiere und Vögel, Reptilien und Meerestiere sind von den Menschen gezähmt und gezähmt worden, aber die Zunge kann niemand zähmen, dieses unruhige Übel, voll tödlichen Giftes. Die Geduld und der Erfindungsreichtum des Menschen haben bei der Zähmung und Abrichtung von Tieren aller Art, Säugetieren, Vögeln, Reptilien und verschiedenen Meerestieren, fast Wunder gewirkt. Wenn auch die göttliche Verheißung der Herrschaft des Menschen, 1. Mose 1,28, durch die Sünde etwas gelitten hat, so kann doch die Herrschaft des Menschen über die Tiere nicht in Frage gestellt werden, da letztere sowohl durch Schlauheit als auch durch Gewalt unterworfen sind. Aber die Zunge scheint jenseits der Fähigkeit des Menschen zu liegen, sie zu unterwerfen und zu zähmen; all das unermessliche Übel, das sie seit dem Sündenfall Adams angerichtet hat, all die zahllosen Warnungen, die seither von den Dienern Gottes ausgesprochen wurden, haben es noch nicht vermocht, ihrer verderblichen Tätigkeit Einhalt zu gebieten. Ein widerspenstiges, ein unruhiges Übel nennt es der Apostel, eines, das Unruhe und Unordnung stiftet, das alle etablierten Regeln für seine Kontrolle umstößt. Es ist voll todbringenden Giftes, Röm. 3,13; das Übel, das es verursacht, hat dieselbe Wirkung wie das Gift der Ameisen, es zersetzt und tötet.

    Wie sehr das zutrifft, zeigt der Apostel an einem einzigen Beispiel: Mit ihm segnen wir den Herrn und Vater, und mit ihm verfluchen wir die Menschen, die nach dem Bilde Gottes geschaffen sind; aus demselben Mund kommt Segen und Fluch. Die Dinge werden hier so dargestellt, wie sie in der Welt zu finden sind, und leider auch inmitten derer, die den Namen Christi tragen und seinen heiligen Namen bekennen. Da die Zunge das Werkzeug der Rede ist, wird sie von den Gläubigen und sogar von anderen zum Lob Gottes, der unser Herr und Vater in Christus Jesus ist, gebraucht. Das ist auch gut so, denn wir können denjenigen, der uns aus der Finsternis des geistlichen Todes in das wunderbare Licht seiner Gnade geführt hat, niemals angemessen preisen. Aber die traurige Seite des Bildes ist die, dass derselbe Mund auch für persönliche Beleidigungen benutzt wird, um einen Mitmenschen zu verfluchen, der ursprünglich nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurde. Denn Gott hat Adam als sein Ebenbild geschaffen, und wenn auch der geistige Teil dieser Ebenbildlichkeit infolge des Sündenfalls verloren gegangen ist, so verkünden doch bestimmte äußere Merkmale, dass der Mensch die Krone der geschaffenen Wesen ist. So wird die Zunge zu einem Werkzeug des Bösen, das Gottes Zorn und Strafe über einen Mitmenschen herabruft. Dafür gibt es keine Entschuldigung, weder Wutausbrüche noch hitzige Auseinandersetzungen. Es ist eine abscheuliche Übertretung, eine schlechte Angewohnheit, die dadurch verschlimmert wird, dass Segen und Fluch aus demselben Mund kommen. Jedem Menschen, der sich eines solchen Verhaltens schuldig gemacht hat, sollte der Widerspruch sofort ins Auge springen; er sollte spüren, dass ein solcher Zustand unmöglich auch nur mit dem Anstand zu vereinbaren ist. Deshalb fügt der Apostel feierlich hinzu: Es sollte nicht sein, meine Brüder, dass solche Dinge geschehen; der Mund, der Gott in inbrünstigem Gebet segnet, sollte die Menschen nicht zu anderen Zeiten verfluchen; ein solches Verhalten lässt sich nicht mit dem christlichen Bekenntnis vereinbaren.

    Wie völlig unvernünftig und widersprüchlich die Haltung der Menschen ist, die sich noch in der beschriebenen Weise schuldig machen, zeigt der Apostel an einigen Beispielen: Eine Quelle, die aus derselben Öffnung sprudelt, schüttet doch nicht süßes und bitteres Wasser aus! Ein Feigenbaum, meine Brüder, kann keine Oliven hervorbringen, und ein Weinstock keine Feigen! Ebenso wenig kann Salzwasser frisches Wasser hervorbringen. Die Natur selbst lehrt, dass das Verhalten der Menschen, wie es der Apostel gerade beschrieben hat, unnatürlich und unvernünftig ist. Denn dieselbe Spalte, dieselbe Öffnung einer Quelle oder eines Brunnens kann nicht gleichzeitig süßes, frisches Wasser und bitteres, brackiges Wasser hervorsprudeln. Ein Feigenbaum trägt keine Oliven und ein Weinstock keine Feigen, und ein Süßwasserbrunnen kann kein Salzwasser und eine Salzwasserquelle oder das salzige Meer kein Süßwasser hervorbringen. Wie viel mehr müssen die Christen auf ihre Zunge aufpassen, damit nicht Gutes und Böses, Gesundes und Verdorbenes aus demselben Mund ausgegossen wird!

 

    Warnung vor Zwietracht (V. 13-18): Der Apostel wendet nun die Lehren aus dem ersten Teil des Kapitels direkt an: Wer ist weise und klug unter euch? Er soll seine Werke durch ein vorzügliches Verhalten in der Sanftmut der Weisheit zeigen. Die Christen sollten von der richtigen Weisheit, der Klugheit und dem gesunden Menschenverstand Gebrauch machen; sie sollten zeigen, dass ihre Intelligenz, die durch ihren Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes kontrolliert wird, gut in der Lage ist, ihr Handeln im Leben zu lenken. Solche Weisheit ist nicht prahlerisch und stolz und rühmt sich auf Kosten anderer, sondern sie ist bescheiden, demütig und sanftmütig. Sie tut das Richtige, sie verhält sich so, dass sie mit dem Willen Gottes übereinstimmt, nicht um ihren eigenen Ruhm zu suchen, sondern nur, um dem Herrn zu dienen, was an sich schon Lohn genug für den Gläubigen ist. In diesem Geist vollbringt er die Werke, die das Wort Gottes ihn lehrt, dem himmlischen Vater zu gefallen.

    Bei einem Menschen, der voll fleischlichen Stolzes ist, kann man das Gegenteil erwarten: Wenn ihr aber bitteren Eifer und Streitsucht in euren Herzen habt, so rühmt euch nicht und lügt damit gegen die Wahrheit. Wenn Menschen, die sich Christen nennen, Eifersucht und Parteienstreit, Eifersucht und Rivalität hegen, wenn sie so aufgeblasen sind vor Stolz und Selbstzufriedenheit, dass sie darauf bestehen, immer im Recht zu sein, und immer behaupten, dass derjenige, der anderer Meinung ist als sie, im Unrecht ist, dann tun sie das auf Kosten der Liebe. Wenn sie unter solchen Umständen einen Vorteil über den anderen erlangen und sich in triumphaler Freude darüber rühmen, dass sie im Recht sind, wird dies fast immer eine Lüge gegen die Wahrheit sein, da die meisten Siege, die unter solchen Umständen errungen werden, auf Kosten der Wahrheit und der Liebe errungen werden und nicht dazu beitragen, die Harmonie zu fördern, die in einer christlichen Gemeinschaft herrschen sollte.

    Über eine solche Zurschaustellung von Stolz sagt der Apostel: Diese Weisheit ist nicht von oben herab, sondern irdisch, sinnlich, teuflisch; denn wo Eifersucht und Rivalität sind, da ist Unordnung und jede böse Tat. Menschen, die sich solcher Mittel bedienen, um ihre Gegner zu besiegen, die immer darauf bestehen, im Recht zu sein und ihre Vorstellungen durchzusetzen, mögen sich für besonders weise halten, wie ja auch ihr selbstgenügsames Auftreten den Uneingeweihten glauben machen möchte. Aber die Weisheit, derer sie sich rühmen, hat nichts mit der wahren Weisheit gemein, wie sie von Gott gegeben wird, wenn die Kirche eine intelligente Leitung braucht. Es ist vielmehr eine Weisheit, die nur von dieser Erde ist; sie ist sinnlich, im Bereich der Sinne, und das ist so weit, wie der Mensch jemals gehen wird; sie ist teuflisch, sie schafft nur solche Zustände, die dem Teufel, der von Anfang an ein Lügner und Mörder ist, besonders angenehm sind. Das ist in der Tat die einzige Frucht, die dort zu erwarten ist, wo Eifersucht und Parteienstreit, Eifersucht und Rivalität herrschen, wo jeder darauf besteht, seine eigenen Ideen durchzusetzen, ohne Rücksicht auf die Ansichten der anderen. Natürlich wird es in einer solchen Gemeinde Unruhen, Störungen geben, alles wird durcheinander gebracht, ein Zustand wird entstehen, der zu jeder bösen Tat Anlass gibt, die Leidenschaften haben schließlich freie und volle Herrschaft.

    Ganz anders verhält es sich dort, wo wahre Sanftmut und Freundlichkeit immer vorhanden sind: Die Weisheit von oben aber ist zunächst rein, dann friedfertig, nachsichtig, nachgiebig, voller Barmherzigkeit und guter Früchte, nicht kritisch eingestellt, nicht heuchlerisch. Diese Weisheit ist von oben, sie ist von Gott gegeben und soll im Gebet von ihm gefordert werden, Kap. 1,5. Wenn jemand meint, er brauche sie nicht, so wird er sicher einen Fehler nach dem anderen machen. Die Weisheit, die Gott gibt und die zu allen Zeiten in der Kirche herrschen soll, ist rein, keusch, heilig, sie hütet sich vor der Sünde in jeder Form; sie ist friedfertig, wo immer dies ohne Verleugnung der Wahrheit möglich ist, sie pflegt friedliche Beziehungen; sie ist nachsichtig, nachsichtig, auch bei schweren Provokationen; er ist nachgiebig, versöhnlich, bereit, einen Kompromiss einzugehen oder die Ansichten des Gegners zu akzeptieren, wenn dies ohne Schaden für das Werk des Herrn geschehen kann; er ist voller Barmherzigkeit, Mitgefühl und guter, gesunder Früchte, begierig, der Sache zu dienen; nicht kritisch eingestellt, sondern großzügig, selbst wenn die Diskussion dazu neigt, bitter zu werden; nicht heuchlerisch, sondern aufrichtig, der Christ bedient sich keiner Tricks und Mittel, um seinem Gegner eine Falle zu stellen.

    Wenn dieser Zustand in einer christlichen Gemeinde, in einer christlichen Gemeinschaft gegeben ist, dann wird er sich einstellen: Die Frucht der Gerechtigkeit aber wird gesät in Frieden für die, die Frieden stiften. Wo immer die Tugenden geübt werden, die der Apostel im vorigen Vers beschrieben hat, da werden die Menschen, die sie üben, auch die Früchte ihrer Arbeit ernten. Wo der Friede Gottes das Herz beherrscht, da wachsen und gedeihen alle Tugenden, die ein wahres, gerechtes Leben ausmachen, in Fülle. Frieden und Gerechtigkeit sind also das Ergebnis der Weisheit, die von oben gegeben wird, eine wahrhaft prächtige Ernte für diejenigen, die die Gesinnung gezeigt haben, die die bekennenden Nachfolger Jesu immer kennzeichnen sollte.

 

Zusammenfassung: Indem der Apostel die Christen vor falscher Aktivität in der Lehre und dem Gebrauch der Zunge warnt, zeigt er ihnen die Gefahren auf, die mit viel Reden einhergehen, besonders wenn die Zunge fanatisch erregt ist; er warnt vor dem Missbrauch der Zunge und vor der Geisteshaltung, die Streit hervorruft.

 

 

Kapitel 4

 

Vorsicht vor weltlicher Gesinnung und deren Folgen (4,1-17)

    1 Woher kommen Streit und Krieg unter euch? Kommt’s nicht daher, aus euren Wollüsten, die da streiten in euren Gliedern? 2 Ihr seid begierig und erlangt es damit nicht; ihr hasst und neidet und gewinnt damit nichts; ihr streitet und führt Krieg. Ihr habt nicht, darum dass ihr nicht bittet. 3 Ihr bittet und bekommt nicht, darum dass ihr übel bittet, nämlich dahin, dass ihr’s mit euren Wollüsten verzehrt. 4 Ihr Ehebrecher und Ehebrecherinnen, wisst ihr nicht, dass der Welt Freundschaft Gottes Feindschaft ist? Wer der Welt Freund sein will, der wird Gottes Feind sein. 5 Oder lasst ihr euch dünken, die Schrift sage umsonst: Den Geist, der in euch wohnt, begehrt und eifert?

    6 Er gibt aber desto reichlicher Gnade, darum sagt sie: Gott widersteht den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade. 7 So seid nun Gott untertänig. Widersteht dem Teufel, dann flieht er von euch. 8 Naht euch zu Gott, dann naht er sich zu euch. Reinigt die Hände, ihr Sünder, und macht eure Herzen keusch, ihr Wankelmütigen! 9 Seid elend und tragt Leid und weint! Euer Lachen verkehre sich in Weinen und eure Freude in Traurigkeit. 10 Demütigt euch vor Gott, so wird er euch erhöhen.

    11 Redet nicht übel voneinander, liebe Brüder! Wer von seinem Bruder übel redet und richtet seinen Bruder, der redet übel vom Gesetz und richtet das Gesetz. Richtest du aber das Gesetz, so bist du nicht ein Täter des Gesetzes, sondern ein Richter. 12 Es ist ein einiger Gesetzgeber, der kann selig machen und verdammen. Wer bist du, der du einen anderen richtest?

    13 Wohlan, die ihr nun sagt: Heute oder morgen wollen wir gehen in die oder die Stadt und wollen ein Jahr da liegen und hantieren und gewinnen, 14 die ihr nicht wisst, was morgen sein wird. Denn was ist euer Leben? Ein Dampf ist’s, der eine kleine Zeit währt, danach aber verschwindet er. 15 Stattdessen ihr sagen solltet: So der HERR will, und wir leben, wollen wir dies oder das tun. 16 Nun aber rühmt ihr euch in eurem Hochmut. Aller solcher Ruhm ist böse. 17 Denn wer da weiß, Gutes zu tun, und tut’s nicht, dem ist’s Sünde.

 

    Gegen eine lustorientierte, streitsüchtige Haltung (V. 1-5): Der Tenor dieses Kapitels gibt Anlass zu folgenden Bemerkungen: „Diese Verse offenbaren einen erschreckenden Zustand moralischer Verderbtheit in den Gemeinden der Diaspora; Streit, Zügellosigkeit, Wollust, Mord, Habgier, Ehebruch, Neid, Hochmut und Verleumdung sind weit verbreitet; die Vorstellung vom Wesen des Gebets scheint bei diesen Menschen völlig falsch gewesen zu sein, und sie scheinen sich ganz dem Vergnügen hingegeben zu haben.“[5] Die Zurechtweisung des Apostels entbehrt nicht einer gewissen Schärfe: Woher kommen die Kämpfe, woher die Streitigkeiten in eurer Mitte? Ist es nicht von dort, nämlich von den Leidenschaften, die in euren Gliedern Krieg führen? Die Situation in vielen judenchristlichen Gemeinden war alles andere als das, was der Friedensfürst in seiner Kirche befürworten würde. Es gab ständiges Gezänk, Zank, Streit, Kämpfe, ohne die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen und friedlich zu wachsen, derselbe Zustand, der auch heute noch in einigen christlichen Gemeinden anzutreffen ist. Der Apostel sagt seinen Lesern unverblümt, was die Quelle all dieser Uneinigkeit und Unordnung ist, nämlich die selbstsüchtigen Begierden, die bösen Lüste, die ungezügelten Leidenschaften, denen sie erlaubten, in ihren eigenen Gliedern Krieg zu führen; sie machten keinen Versuch, die bösen Regungen ihres Herzens zu zügeln, sie machten ihre Glieder zu Werkzeugen der Ungerechtigkeit. Vgl. Röm. 7,23; 1. Kor. 9,7.

    Mit dramatischer Inbrunst fährt der Apostel fort: Ihr begehrt und habt nicht; ihr mordet und seid voller Neid und könnt es nicht erlangen; ihr zankt und streitet. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Jakobus hier durchweg die geistliche Auslegung des Gesetzes verwendet, indem er die Sünden der Begierden und Gedanken beim richtigen Namen nennt und auf ihren Stellenwert vor Gott hinweist. Die Menschen, an die dieser Brief gerichtet war, waren unzufrieden, sie waren voller Sehnsucht nach etwas anderem; ihre Hoffnungen und Erwartungen waren in einem sehr verschwommenen Zustand, wie es gewöhnlich bei Menschen der Fall ist, die mit ihrem Los nicht zufrieden sind und glauben, für Höheres bestimmt zu sein. Ihre Herzen waren voller Mord und Neid, sie fürchteten immer, dass ein anderer Bruder zu größerer Ehre und Ansehen in der Gemeinde gelangen könnte, und der Wunsch, er möge aus dem Weg geräumt werden, mag oft durch Pläne zu seiner Entfernung ergänzt worden sein. Aber bei all den Streitereien und Kämpfen, die in ihrer Mitte stattfanden, erlangten sie keinen geistlichen Vorteil, da ihre eigene Gesinnung die Segnungen des Herrn ausschloss.

    Dieser Zustand wurde noch durch einen anderen Faktor verschlimmert: Ihr habt nichts, weil ihr nicht darum bittet; ihr bittet und empfangt nichts, weil ihr in falscher Weise bittet, um es für die Befriedigung eurer eigenen Begierden auszugeben. In vielen Fällen wurde sogar die Formalität des Gebets über dem unaufhörlichen Gezänk vergessen, und so war natürlich auch an die Erfüllung guter Wünsche nicht zu denken. Aber selbst dort, wo die Förmlichkeit des Gebetes eingehalten wurde, wo sie die Gebärden vollzogen, die das Gebet begleiten sollten, gab es keine Chance, dass sie erhört wurden und den Gegenstand ihrer Wünsche erhielten, weil ihr Gebet im Interesse ihrer eigenen Selbstsucht erfolgte; ihr Ziel war es, die Gaben, die sie von Gott erhalten könnten, zur Befriedigung ihrer eigenen Begierden zu verwenden; sie wollten seine Segnungen bei der Durchführung verschiedener eigener Pläne zu ihrem eigenen Nutzen und ihrer Vergrößerung verschwenden.

    In heiligem Eifer warnt sie der Apostel: Ihr liederlichen Geschöpfe, wisst ihr nicht, dass die Freundschaft der Welt Feindschaft gegen Gott ist? Wer sich also entscheidet, ein Freund der Welt zu sein, der wird zum Feind Gottes. Ehebrecher und Ehebrecherinnen nennt der Apostel seine Leser, ganz allgemein gesprochen, denn ihr Verhalten näherte sich nicht nur dem Götzendienst, der geistlicher Ehebruch ist, sondern ihr Verhalten gegenüber der Welt gefährdete auch ihre leibliche Keuschheit. In den Gemeinden gab es, wie auch heute, eine zunehmende Tendenz, die feste Front gegen die Welt und ihre Vergnügungen aufzugeben; die Begierden der Welt drangen in die Kirche ein. Die Christen zögerten nicht, die Freundschaft der Kinder der Welt zu suchen, um an den besonderen Vergnügungen des Fleisches teilzuhaben, die die Kinder der Welt pflegen. Aber damals wie heute galt, dass jeder, der sich eines solchen Verhaltens schuldig machte, sich damit zum Feind Gottes machte, sich in direkten Gegensatz zu Gott und seinem heiligen Willen stellte und die ersten Schritte zu einem Leben des Götzendienstes tat.

    Mit herausfordernder Inbrunst fragt der Apostel: Oder meinst du etwa, dass die Schrift vergeblich sagt: "Bis zum eifersüchtigen Neid sehnt sich der Geist, den er in uns wohnen ließ, nach uns"? Ein solches Verhalten, wie es der Apostel gerade beschrieben hat, ist absolut unvereinbar mit den Idealen, die der Herr den Christen in seinem Wort vor Augen stellt. Vgl. Gal. 5,17.21; Röm. 8,6.8; 1. Kor. 3,16. Diese und ähnliche Stellen, die sich an vielen Stellen der Heiligen Schrift finden, weisen eindeutig darauf hin, dass der Herr mit eifersüchtigem Neid über das Verhalten der Christen wacht. Der Heilige Geist, der gekommen ist, um in unseren Herzen zu wohnen, strebt unablässig danach, dass wir dieselbe Liebe zu Gott und seinem heiligen Willen erlangen, die er für uns und für unsere höchste geistliche Entwicklung hegt. Jedes Verhalten unsererseits, das dazu neigt, den Heiligen Geist aus unseren Herzen zu verdrängen, wird daher unser geistliches Wachstum verzögern.

 

    Von Christen wird eine demütige Gesinnung verlangt (V. 6-10): Man kann sagen, dass alle Sünden ihre Wurzel und ihren Ursprung im Stolz des menschlichen Herzens haben, das sich weigert, sich dem Willen des Herrn zu beugen. Die Christen werden sich daher selbst verleugnen und sich auf die von oben verheißene Hilfe verlassen: Er aber gibt größere Gnade; darum sagt er: Gott stellt sich gegen die Stolzen; den Demütigen aber schenkt er Gnade. Wenn der Geist, der bei uns Wohnung genommen hat, sein Werk nur ungehindert durch willentliche Übertretungen und Ausbrüche böser Begierden verrichten kann, dann wird der Herr uns durch sein Wirken in unseren Herzen die Gnade zu einem Leben der rechten Heiligung geben. Für diese Wahrheit haben wir die Autorität des Wortes, in dem der Heilige Geist selbst uns die Gewissheit gibt, dass Gott zwar den Hochmütigen stets widersteht, es aber sein Wohlgefallen ist, den Demütigen Gnade zu schenken. Vgl. Spr. 3,34; 1. Petr. 5,5. Das ständige Bemühen eines Christen wird also darin bestehen, den natürlichen Stolz seines Herzens durch die Kraft des Geistes, der in ihm lebt, zu überwinden und zu besiegen und dem Herrn stets ein Herz anzubieten, das bereit ist, seinen Willen zu hören und zu halten. Beachten Sie, dass die Göttlichkeit des Heiligen Geistes in diesem Abschnitt deutlich gelehrt wird.

    Der Apostel spricht von der Notwendigkeit einer solchen Haltung: Unterwerft euch also Gott; stellt euch aber dem Teufel entgegen, so wird er vor euch fliehen. Das ist das Kennzeichen der Gläubigen aller Zeiten, dass sie den Hochmut und Stolz ihrer bösen Natur mehr und mehr überwinden und sich mit allen ihren Gaben und Fähigkeiten in die Hände Gottes begeben, sei es in guten oder in schlechten Tagen, Ps. 37,5. Wie der Herr sie in seinem Wort lehrt, so folgen sie ohne Zögern, auch wenn es die völlige Selbstverleugnung bedeutet. Und indem sie diesen Teil ihrer christlichen Berufung erfüllen, werden sie sich mit aller Kraft, die ihnen zur Verfügung steht, gegen die List und die Versuchungen des Teufels stellen und ihnen widerstehen. Es geht um unaufhörliche Wachsamkeit, um unermüdliches Kämpfen; aber es gibt nur ein mögliches Ergebnis, nämlich die Flucht des Teufels. Wenn wir Gott und das Wort auf unserer Seite haben, wird der Sieg unser sein.

    Das erfordert, was der Apostel weiter anmahnt: Nähert euch Gott, und er wird sich euch nähern. Je mehr sich unsere neue, erneuerte, geheiligte Natur dem Herrn nähert, je fester wir mit ihm im Glauben und in der Liebe auf der Grundlage seines Wortes verbunden sind, desto besser sind unsere Chancen, alle Feinde zu überwinden, die versuchen, uns vom Herrn wegzuziehen. Zu denen aber, die das nicht tun wollen, sagt der Apostel: Reinigt eure Hände, ihr Sünder, und macht eure Herzen keusch, ihr Doppelmoralischen. Wo immer es Menschen gibt, die sich Christen nennen und immer noch nach den Fleischtöpfen der Welt lechzen, müssen sie durch einen solchen lauten Ruf zur Treue wieder zur Vernunft gebracht werden. Sie sollten die Hände reinigen, die durch jeden Kontakt mit den schmutzigen Dingen dieser Welt beschmutzt worden sind; sie sollten dafür sorgen, dass ihre Herzen, deren Treue sie zwischen Gott und der Welt zu teilen versucht haben, sich ganz allein dem Herrn und seinem Willen zuwenden.

    In den meisten Fällen würde dies eine Rückkehr zum Herrn durch eine echte Reue erforderlich machen: Nehmt Not auf euch und trauert und weint; euer Lachen soll sich in Wehklagen verwandeln und eure Freude in Niedergeschlagenheit. In diesem Abschnitt finden sich viele Anspielungen auf die alttestamentlichen Bußaufrufe, wie sie von den Propheten geäußert wurden. Die Tatsache, dass sie sich vom Herrn abgewandt haben und sich solcher Übertretungen schuldig gemacht haben, die der Apostel aufgezählt hat, sollte die Schuldigen dazu veranlassen, sich elend und betrübt zu fühlen; ihre Sünden sollten bei ihnen Trauer und Weinen hervorrufen, als Zeichen eines echten Sinneswandels. Während sie früher in der ausgelassenen Art der Welt und mit den Kindern dieser Welt gelacht haben, sollten sie jetzt bittere Klage erheben; während sie ihre Freude in den zum Götzendienst neigenden Genüssen fanden, sollte der Gedanke an ihre Übertretung sie niedergeschlagen und im Geiste niedergeschlagen machen.

    Wenn diese Haltung bei ihnen zu finden wäre, eine echte Reue des Herzens, dann würden sie auch die Gewissheit haben: Seid gedemütigt vor dem Herrn, und er wird euch erhöhen. Solange der Stolz das Leben und die Werke eines Menschen beherrscht, solange wird Gott den Bemühungen eines solchen Menschen widerstehen. Wenn aber ein armer Sünder all seine Selbstgerechtigkeit, all den sündigen Stolz seines Herzens über Bord geworfen hat und ein zerbrochenes und zerknirschtes Herz vor den Herrn legt, dann wird der Herr selbst ihn erhöhen, seine Sünden vergeben und ihn durch die Verdienste des Erlösers Jesus Christus annehmen.

 

    Gegen liebloses Richten (V. 11-12): Die Demut, die von den Christen verlangt wird, zeigt sich nicht nur in ihrem Verhalten gegenüber Gott, sondern auch gegenüber dem Nächsten. Gegen die häufigste Form der Übertretung in dieser Hinsicht schreibt der Apostel: Ihr sollt nicht gegeneinander reden, liebe Brüder. Die Tatsache, dass die Christen Brüder sind, ist an sich schon ein Grund, warum sie sich nicht in liebloser Kritik ergehen sollten. Denn, wie Jakobus erklärt: Wer gegen seinen Bruder redet oder seinen Bruder richtet, der redet gegen das Gesetz und richtet das Gesetz; wenn du aber das Gesetz richtest, bist du nicht ein Täter des Gesetzes, sondern ein Richter. Schlecht über einen Bruder zu reden, seinen Bruder zu kritisieren und zu verurteilen, ist gegen den Willen Gottes, gegen sein heiliges Gesetz, gegen das achte Gebot. Eine Person, die sich eines solchen Verhaltens gegenüber ihrem Bruder schuldig macht, macht sich daher einer Übertretung des Gesetzes schuldig. Zu sagen, dass das Gesetz diesen Fall nicht abdeckt, bedeutet, das Gesetz falsch zu interpretieren, und diese Handlung ist wiederum gleichbedeutend mit Kritik und Verurteilung des Gesetzes. Ein Mensch, der sich ein solches Verhalten anmaßt, ist also kein Gesetzestäter, sondern ein Richter über das Gesetz, und zwar ein schlechter.

    Die Menschen, die sich diesem Zeitvertreib hingeben, sollten sich daran erinnern: Einer ist es, der Gesetzgeber und Richter ist, der zu retten und zu vernichten vermag; wer aber bist du, der du deinen Nächsten richtest? Hier wird die arrogante Unverfrorenheit dessen deutlich, der seinen Nächsten auf lieblose Weise richtet. Denn er maßt sich an, ein Amt zu bekleiden, das allein Gott gehört, der das Gesetz gegeben hat und der die Übertreter verurteilen und die Schuldigen bestrafen wird. Die Stelle erinnert stark an Matth. 7,1-5; Luk. 6,37; Röm. 2,1. Dass ein einfacher Mensch seinen Nächsten kritisiert und verurteilt, außer in Fällen, in denen der Herr selbst die Gemeinde beauftragt hat, seine Verurteilung auszuführen, ist völlig unberechtigt und wird von Gott als Eingriff in seine Autorität missbilligt. Der Abschnitt enthält eine Warnung, die nicht oft genug wiederholt werden kann.

 

    Wesentlich ist Vertrauen in Gottes Weltregierung (V. 13-17): In den vorangegangenen Versen hat der Apostel die Anmaßung der Menschen sowohl gegenüber dem Herrn als auch gegenüber den Brüdern getadelt. Hier spricht er von einer anderen Form des Hochmuts, die die Vorsehung des Herrn und seine Herrschaft über die Welt kühl ignoriert: "Kommt her, ihr, die ihr sagt: Heute oder morgen werden wir in diese oder jene Stadt reisen; wir werden dort ein Jahr lang Geschäfte machen und Geld verdienen - ihr, die ihr nicht wisst, was morgen sein wird. Die unverschämte Unabhängigkeit, die sich in der Haltung vieler Menschen zeigt, wird hier gekonnt und realistisch herausgestellt. Ähnliche Reden kann man jeden Tag in allen Städten der Christenheit hören. Die Regierung und die Vorsehung des Herrn werden in aller Ruhe missachtet. Die Menschen machen ihre Pläne für Reisen, für die Ausweitung ihrer Geschäfte, für die Anhäufung von Reichtum, ohne den Herrn zu berücksichtigen. Und doch wissen sie nicht, was der morgige Tag bringen wird, ja nicht einmal, ob sie den morgigen Tag erleben werden!

    Das stellt der Apostel trefflich heraus: Denn was ist euer Leben? Denn ihr seid ein Dunst, der eine kleine Weile sichtbar ist und danach vergeht. So wie alles in dieser Welt ungewiss und unbeständig ist, so gilt dies auch für das Leben des Menschen. Wer kann schon sagen, wie lange es dauern wird, wo doch alles darauf hindeutet, dass es die ungewisseste Größe ist, die wir uns vorstellen können? Das Leben des Menschen ist wahrhaftig wie ein Dunst, wie ein Hauch von Dampf, wie ein Nebelkranz, der in einem Augenblick in der Luft schwebt und im nächsten verschwindet, Hiob 14,1.2; Ps. 90,5.6.9. Wie müßig und töricht ist es daher, so zu reden und zu handeln, als ob wir Herren unseres Lebens und unseres Schicksals wären, wenn wir nicht unter Gottes Führung stehen!

    Die richtige Haltung ist die, die der Apostel schildert: Anstatt zu sagen: Wenn der Herr es will und wir leben, werden wir dies oder jenes tun, oder: Wenn der Herr es will, werden wir leben. Unser ganzes Leben mit all seinen Wechselfällen ist in der Hand des Herrn, unter seiner Regierung. Arrogante Unabhängigkeit hat daher keinen Platz im Leben des Christen. Alle seine Pläne unterliegen der Zustimmung oder Ablehnung durch den Herrn, unter dessen Willen sich der Gläubige jederzeit beugt. So wie unsere Gebete in Bezug auf irdische Segnungen immer von seinem Wohlwollen abhängen, so sollten auch alle Wege und Pfade unseres Lebens in seine lenkende Hand gelegt werden, denn er weiß es am besten.

    Damit diese Ermahnung nicht auf die leichte Schulter genommen wird, fügt der Apostel hinzu: Jetzt aber rühmt ihr euch in eurem stolzen Anspruch; alle solche Prahlerei ist böse. Eine Haltung stolzer Gleichgültigkeit gegenüber der Regierung des Herrn und seiner Kontrolle über die Angelegenheiten des menschlichen Lebens aufrechtzuerhalten, zeugt von einem Stolz, der mit dem wahren Christentum nicht zu vereinbaren ist; es ist ein böses Rühmen, dem viele Menschen nachgeben. So mancher, der seinen Willen über den des Herrn gestellt hat, hat zu seinem Leidwesen erfahren, dass der Herr sich nicht verhöhnen lässt, auch nicht in den so genannten Kleinigkeiten des täglichen Lebens. Und so kommt die abschließende Warnung mit feierlichem Nachdruck: Wer das Gute zu tun weiß und es nicht tut, für den ist es Sünde. Dieser Grundsatz wird auch von Jesus hochgehalten, Luk. 12,47.48. Einige der Christen mögen sich in Bezug auf die verschiedenen Punkte, die der Apostel in diesem Kapitel anführt, aus Unachtsamkeit geirrt haben. Diese Tatsache hätte sie nicht entschuldigt, aber es wäre eine wohlwollende Erklärung für ihr Verhalten gewesen. Nun aber, da die Tatsachen des Willens Gottes so ausführlich erörtert worden sind, ist auch der letzte Fetzen einer Entschuldigung weg. Jeder, der die hier dargelegten Punkte zur Heiligung der Gläubigen missachtet, hat niemand anderen als sich selbst zu tadeln, wenn das Gericht des Herrn das volle Maß an Strafen über ihn verhängt. Denn nicht nur begangene Sünden werden verurteilt, sondern auch Unterlassungssünden, wenn man nicht das tut, was vor Gott recht ist. Dieses Wort sollte auch in unseren Tagen mit der gebührenden Sorgfalt beachtet werden.

 

Zusammenfassung: Der Apostel warnt seine Leser vor jeglichem Auftreten von Begierde, Neid und weltlicher Gesinnung und fordert von ihnen wahre Demut, die Abwesenheit von lieblosem Urteilen und Vertrauen in Gottes Vorsehung und Regierung.

 

 

Kapitel 5

 

Verschiedene Ermahnungen, weil das Jüngste Gericht nahe ist (5,1-20)

    1 Wohlan nun, ihr Reichen, weint und heult über euer Elend, das über euch kommen wird! 2 Euer Reichtum ist verfault; eure Kleider sind von Motten zerfressen. 3 Euer Gold und Silber ist verrostet, und ihr Rost wird euch zum Zeugnis sein und wird euer Fleisch fressen wie ein Feuer. Ihr habt euch Schätze gesammelt in den letzten Tagen. 4 Siehe, der Arbeiter Lohn, die euer Land eingeerntet haben, und von euch zurückbehalten wurde, der schreit; und das Rufen der Erntearbeiter ist gekommen vor die Ohren des HERRN Zebaoth. 5 Ihr habt wohlgelebt auf Erden und eure Wollust gehabt und eure Herzen geweidet als auf einen Schlachttag. 6 Ihr habt verurteilt den Gerechten und getötet, und er hat euch nicht widerstanden.

    7 So seid nun geduldig, liebe Brüder, bis auf die Zukunft des HERRN! Siehe, ein Ackermann wartet auf die köstliche Frucht der Erde und ist geduldig darüber, bis dass er empfange den Morgenregen und Abendregen. 8 Seid ihr auch geduldig und stärkt eure Herzen; denn die Zukunft des HERRN ist nahe. 9 Seufzt nicht gegen einander, liebe Brüder, damit ihr nicht verdammt werdet! Siehe, der Richter ist vor der Tür! 10 Nehmt, meine lieben Brüder, zum Beispiel des Leidens und der Geduld die Propheten, die zu euch geredet haben in dem Namen des HERRN. 11 Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben. Von der Geduld Hiobs habt ihr gehört, und das Ende des HERRN habt ihr gesehen; denn der HERR ist barmherzig und ein Erbarmer.

    12 Vor allen Dingen aber, meine Brüder, schwört nicht, weder bei dem Himmel noch bei der Erde noch mit keinem anderen Eid. Es sei aber euer Wort: Ja, das ja ist; und: Nein, das nein ist, damit ihr nicht in Heuchelei fallt. 13 Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Muts, der singe Psalmen. 14 Ist jemand krank, der rufe zu sich die Ältesten von der Gemeinde und lasse sie über sich beten und ihn einreiben mit Öl in dem Namen des HERRN. 15 Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der HERR wird ihn aufrichten; und wenn er hat Sünden getan, werden sie ihm vergeben sein.

    16 Bekenne einer dem anderen seine Sünden und betet füreinander, damit ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist. 17 Elia war ein Mensch gleich wie wir, und er betete ein Gebet, dass es nicht regnen sollte; und es regnete nicht auf Erden drei Jahre und sechs Monate. 18 Und er betete abermals, und der Himmel gab den Regen, und die Erde brachte ihre Frucht. 19 Liebe Brüder, so jemand unter euch irren würde von der Wahrheit, und jemand bekehrte ihn, 20 der soll wissen, dass, wer den Sünder bekehrt hat von dem Irrtum seines Weges, der hat einer Seele vom Tod geholfen und wird bedecken die Menge der Sünden.

 

    Warnung an die Reichen (V. 1-6): Zu den Bemerkungen, die der Autor im ersten Teil seines Briefes über die Reichen geschrieben hat, fügt er nun eine Ermahnung hinzu, in der er sie direkt auffordert, ihr Verhalten zu überdenken: Kommt nun, ihr Reichen, und weint mit Klagen über euer Unglück, das euch bevorsteht. Er will, dass die Reichen aufhorchen, dass sie in ihrem wahnsinnigen Streben nach Reichtum einen Moment innehalten. Denn schon eine oberflächliche Betrachtung ihrer tatsächlichen Lage wird ihnen alle Selbstzufriedenheit und ihr vorgetäuschtes Glück aus Herz und Mund nehmen und sie stattdessen veranlassen, bitterlich zu weinen, bis hin zum Heulen, über das Elend und Unglück, das sich ihnen nähert. Es ist eine prophetische Warnung von großer Kraft. Vgl. Luk. 6,24.

    Der Grund, warum die Reichen, die sich auf den Reichtum dieser Welt verlassen, in einen Zustand jämmerlichen Wehklagens versetzt werden, wird vom Apostel genannt: Euer Reichtum verrottet, und eure Kleider werden von Motten zerfressen. Die Menschen in diesem Zustand glauben, dass ihr Geld, ihr Reichtum, gegen alle Eventualitäten gesichert ist, weshalb sie auch ihr ganzes Vertrauen auf das setzen, was ihre Hände angehäuft haben. In Wirklichkeit aber ist es am Verfaulen, am Verwesen; ihr Vertrauen ruht auf einem morschen Fundament. Und ihre reichen und kostbaren Kleider und Gewänder, die sie aus allen Ländern der Erde zusammengetragen haben, werden von Motten zerfressen. Das ist es, woran sie ihre Freude haben, vergänglich, ohne bleibenden Wert, ja, mehr noch, wertlos vor Gott. Vgl. Matth. 6,19.20. Das Gleiche wird im nächsten Satz gesagt: Euer Gold und Silber ist verrostet, und ihr Rost wird ein Zeugnis gegen euch sein und wird euer Fleisch wie Feuer verzehren; ihr habt Schätze angehäuft in diesen letzten Tagen. Der Apostel verwendet eine starke bildliche Sprache. Das ganze Geld, auf das sich die Reichen so hingebungsvoll verlassen, ist mit Schmutz bedeckt; es gehört zu den verderblichen Gütern dieser Welt, die am Ende alle zu Staub zerfallen und verzehrt werden. Dieser Staub oder Dreck oder Rost wird gegen sie zeugen, dass sie ihr Vertrauen in solche verderblichen Dinge gesetzt haben. Anstatt die Seele für immer zu befriedigen, wird die Zeit kommen, in der dieser Staub und Unrat, für den die Menschen ihre unsterblichen Seelen verkauft haben, sich als Qual erweisen und ihre Körper mit dem ewigen Feuer der Hölle verzehren wird. Denn es wird ihnen vorgeworfen, dass sie in diesen letzten Tagen der Welt Reichtümer für sich selbst angehäuft haben. Sie begnügten sich nicht mit dem Segen, den der Herr auf ehrliche Arbeit legt, mit dem Lebensnotwendigen, sondern glaubten sich verpflichtet, Reichtum anzuhäufen, nie zu ruhen, nie zufrieden zu sein.

    Der heilige Schreiber zeigt nun, auf welche Weise diese Anhäufung von Reichtümern weitgehend geschah: Seht, der Lohn der Arbeiter, die eure Felder geerntet haben, um die ihr sie betrogen habt, schreit auf, und das Geschrei der Erntearbeiter ist an die Ohren des Herrn von Sabaoth gedrungen. Es ist der uralte Streit zwischen Kapital und Arbeit, der hier berührt wird. Die reichen Männer heuerten die Arbeiter an, um die reichen Getreidefelder zu ernten, die sie als Segen des Herrn hätten betrachten sollen. Aber nachdem die Arbeiter ihre Arbeit getan hatten, um die reichen Gaben der Güte Gottes einzulagern, was den Besitzern ganz nebenbei neuen Reichtum einbrachte, ignorierten letztere ruhig die Tatsache, dass der Lohn zu zahlen war. Es ist dieselbe Klage, die seither tausende Male aufgetaucht ist, dass die reichen Besitzer von Bauernhöfen und Fabriken den Männern, die für sie arbeiten, den ihnen zustehenden Lohn vorenthalten, während sie selbst einen unverhältnismäßigen Gewinn einstecken und so sowohl ihre Arbeiter als auch die Öffentlichkeit betrügen. Wenn Kapitalisten und Arbeiter doch nur die Warnung beherzigen würden, dass es Gott ist, der in solchen Fällen sogar das Weinen der besinnungslosen Kreatur hört, und dass das Stöhnen derer, denen Unrecht geschieht, zu seinen Ohren dringt! Er ist der Herr von Sabaoth, der König der himmlischen Scharen, der allmächtige Gott, der gerechte Richter.

    Es gibt noch eine weitere Anklage, die vorgebracht werden muss: Ihr habt euch auf der Erde ausgetobt und ein ausschweifendes Leben geführt; ihr habt eure Herzen gemästet wie am Tag der Schlachtung. Das ist eine der größten Versuchungen, die mit dem Reichtum verbunden sind, einer der Gründe, warum der Fluch Gottes oft mit seinem Erwerb einhergeht, nämlich dass die Menschen ihren Reichtum dazu benutzen, ein Leben des Vergnügens zu führen, dieses Leben in vollen Zügen zu genießen, köstlich und wollüstig zu leben, in Ausschweifung und Wollust, in Selbstverliebtheit jeder Art. Das wird sehr treffend ausgedrückt, wenn der Apostel sagt, dass sie ihre Herzen mästen wie zur Zeit der Schlachtung, denn dann könnten sie sich satt essen und trinken, jede Form der Mäßigung vergessen und ihren Bauch zu ihrem Gott machen, Phil. 3,19. Um ihre Ziele zu erreichen, zögern diejenigen, die reich sein wollen, nicht, jedes Mittel anzuwenden, das ihnen das ersehnte Geld bringt: Du hast den Gerechten verurteilt und getötet, und er widersteht dir nicht. Dies verdeutlicht die Abgründe der Verderbtheit, in die ein Mensch getrieben wird, wenn die Gier nach Reichtum einmal sein Herz ergriffen hat. Es kann sein, dass ein Gerechter im Weg steht, wie im Fall von Naboth. Aber es scheint, dass diese Tatsache die Begierde des Habgierigen nur noch mehr anheizt. Es gibt Tausende von Möglichkeiten, Gesetze zu umgehen oder so zu gestalten, dass sie den Interessen der Reichen entgegenkommen, solange sie bereit sind, für den gewünschten Rechtsbeistand eine angemessene Summe zu bezahlen. Oft genug wird derjenige verurteilt, der eigentlich im Recht ist, und es fehlt nicht an Beispielen, wo der Gerechte um ein paar lumpige Dollar willen aus dem Weg geräumt wurde. Als Gerechter erträgt ein solcher Mensch die Misshandlungen oft schweigend, weil er erkennt, dass es sinnlos ist, sich gegen das Unrecht zu wehren. Die ganze Schilderung gibt ein anschauliches Bild von den Verhältnissen, wie sie auch heute noch herrschen, und zwar mitten in den sogenannten christlichen Gemeinden.

 

    Ermahnung zur Geduld (V. 7-11): Wahrscheinlich veranlasste der Gedanke an die unnachgiebige Geduld der Gerechten angesichts der schlechten Behandlung durch die Reichen den Apostel, diesen Absatz über die Geduld, die die Gläubigen zu allen Zeiten zeigen sollten, hinzuzufügen: Seid also geduldig, Brüder, bis zur Ankunft des Herrn. Geduldiges, klagloses Ausharren sollte die Christen zu allen Zeiten kennzeichnen. Denn es ist nur für eine kurze Zeit, die sie zu leiden haben. Eine Tatsache wird ihnen immer vor Augen gehalten, nämlich dass ihr Herr kommt, dass er gewiss in Herrlichkeit wiederkommen wird. Noch eine kleine Weile, und der, der kommt, wird kommen und nicht mehr lange bleiben, Hebr. 10,37.

    Der Apostel verweist auf das Beispiel des Bauern: Seht, wie der Bauer auf die kostbare Frucht des Landes wartet, indem er sich in Geduld übt, bis er den Früh- und Spätregen erhält. Wenn es jemanden gibt, dessen Arbeit ein hohes Maß an Geduld erfordert, dann ist es der Mensch, der vom Boden lebt. Er erkennt, wie sehr die Menschheit in Bezug auf Nahrung vom Herrn abhängig ist. Er legt seine Saat in das Land, das er vorbereitet hat, und wartet geduldig ab, bis er seinen Lohn in Form einer reichen Ernte erhält. In Palästina wusste er, dass sein Erfolg vom rechtzeitigen Einsetzen des ersten oder herbstlichen Regens abhing, der das Land nach den heißen Sommermonaten in einen Zustand versetzte, in dem es bebaut werden konnte, und vom zweiten oder Frühlingsregen im April, der die Reifung der Ernte unterstützte. Seine ganze Arbeit war also eine Sache des geduldigen Wartens.

    Diesem Beispiel sollten die Christen folgen. Habt auch ihr Geduld; stärkt eure Herzen, denn die Ankunft des Herrn ist nahe. Geduldiges Ausharren sollte der Leitgedanke im Leben der Christen sein. Unzählige Male ist ihr Herz kurz davor, schwach zu werden und den scheinbar ungleichen Kampf aufzugeben. Doch mit Hilfe von oben finden sie sich immer wieder in der Lage, ihr Herz zu stärken und zu festigen. Denn der Gedanke hält sie aufrecht, dass das Kommen des Herrn zum Gericht nahe ist, dass Seine Wiederkunft für sie ewige Seligkeit bedeutet. Es ist nur noch eine kurze Zeit des Wartens, und dann wird die Ernte mit unaussprechlicher Freude eingebracht werden.

    Bis dahin sollten sie beherzigen, was der Apostel ihnen sagt: Murret nicht gegeneinander, Brüder, damit ihr nicht gerichtet werdet; denn siehe, der Richter steht vor der Tür. Die offensichtliche Verzögerung der Wiederkunft des Herrn gemäß seiner Verheißung hat viele Menschen dazu veranlasst, ungeduldig zu werden, ihr eigenes Los mit dem der anderen zu vergleichen und das größere Glück der anderen zu missbilligen. Ein solches Verhalten, das ganz und gar nicht mit dem Wort des Herrn und mit der Gesinnung übereinstimmt, die er von denen erwartet, die ihm gehören, wird seine Verurteilung über die Schuldigen herbeiführen. Für diejenigen, die durch geduldiges Ausharren in guten Taten auf sein Kommen warten, ist die Rettung nahe, aber für diejenigen, die voller Neid auf andere sind und ihre Zeit damit verbringen, ihre vermeintlichen Missstände zu pflegen, ist der Richter, der gerechte Richter, gekommen. Er steht schon jetzt vor der Tür, und sein Eintritt in das Gericht ist nur eine Frage von kurzer Zeit, die weitgehend durch die Tatsache seiner barmherzigen Liebe zu den Gefallenen bestimmt wird, die er für das ewige Heil zu gewinnen sucht.

    Es gibt auch Beispiele der Heiligen von einst, die die Gläubigen ermutigen und stärken können: Als Beispiel für das Erleiden des Bösen und für die Geduld, meine Brüder, nehmt die Propheten, die im Namen des Herrn geredet haben. Vgl. Hebr. 11. Die meisten der alten Propheten waren zwar damit beschäftigt, im Namen des Herrn zu predigen und ihren Landsleuten die wunderbare Botschaft vom kommenden Messias zu verkünden, doch waren sie vielerlei Verfolgungen ausgesetzt; sie mussten Böses in vielerlei Gestalt ertragen. Sie können daher gut als Beispiele für Geduld und Ausdauer dienen, die wir uns immer vor Augen halten sollten. Wenn der Herr ihnen die Kraft gab, die mannigfaltigen Bedrängnisse, die über sie kamen, bis zum Ende zu ertragen, wird er auch uns mit seinem Trost und seiner Kraft zur Seite stehen.

    Und es gibt noch einen weiteren Punkt, der Erwähnung verdient: Siehe, selig sind die Leidenden, die es ertragen haben. Von der Geduld Hiobs habt ihr gehört, und das Ende des Herrn wisst ihr, dass der Herr sehr barmherzig und voller Erbarmen ist. Hiob war bei den Juden zu allen Zeiten ein beliebtes Beispiel für Geduld, und er ist es auch heute noch. Christen sollten sich daran erinnern, dass wir gemeinhin und zu Recht denen, die bis zum Ende durchgehalten haben, die Seligkeit, das Glück des Heils, zuschreiben. Vgl. Matth. 5,11. Mit der Geschichte Hiobs waren die Leser dieses Briefes vertraut; sie kannten das Ende und die Absicht des Herrn in Bezug auf diesen geduldig leidenden Menschen. Gerade in seiner Geschichte wurde ein Punkt so nachdrücklich deutlich, nämlich dass der Herr sich so sehr über die Seinen erbarmt, dass sein Herz sich in Mitleid und Barmherzigkeit nach seinen Kindern sehnt. So liegt in dieser Anspielung sowohl Trost als auch Kraft für die Christen aller Zeiten.

 

    Der falsche und der rechte Gebrauch des Namens Gottes (V. 12-15): Der Apostel leitet einen neuen Abschnitt ein, der zum Teil mit den Worten der eigenen Unterweisung des Herrn formuliert ist: Vor allem aber, meine Brüder, schwört nicht, weder beim Himmel noch bei der Erde, noch mit irgendeinem anderen Eid. Euer „Ja“ sei ein einfaches „Ja“ und euer „Nein“ ein einfaches „Nein“, damit ihr nicht in die Verdammnis fallt. Vgl. Matth. 5,34. Wie die Ermahnungen Jesu in der Bergpredigt zielen auch diese Worte darauf ab, dem leichtfertigen Gebrauch des Eides ein Ende zu setzen, der heute gewiss so weit verbreitet ist, wie er es in der Geschichte der Welt je war, und der gewiss zum Himmel schreit. Wenn nicht das Gebot der Regierung oder das Wohl des Nächsten oder die Ehre Gottes eine eidesstattliche Versicherung verlangen, sollte eine einfache Versicherung der Tatsachen oder ein einfaches Leugnen seitens der Christen ausreichen. Derjenige, der ständig mit einem Eid bereit ist, verursacht bei denen, die ihn hören, Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit und bringt selbst die unter Eid gemachten Aussagen in Misskredit: Es ist so, als ob man zu viel beweist und damit nichts beweist. Und Gott verurteilt solche Schwüre in aller Deutlichkeit.

    Was das allgemeine Verhalten der Christen betrifft, so sagt der Apostel: Leidet jemand unter euch Böses? Dann lasst ihn beten. Ist jemand guten Mutes? Dann soll er Loblieder singen. Anstatt diejenigen anzuprangern und zu verfluchen, die uns bedrängen und uns Böses erleiden lassen, sollten wir als Christen unsere Angelegenheit in die Hände unseres himmlischen Vaters legen, damit er uns zurechtweist und richtet, und ihn gleichzeitig um die Geduld bitten, die notwendig ist, um das Böse zu ertragen. Wenn man andererseits guter Dinge ist und sich über irgendeine Offenbarung der Güte oder Barmherzigkeit Gottes freut, ist die beste Art, seine Wertschätzung zu zeigen, seinen heiligen Namen in Liedern der Dankbarkeit zu preisen. Wir sollten nicht nur an den Herrn denken, wenn wir in Schwierigkeiten sind, sondern auch an den Tagen, an denen wir uns seiner Segnungen erfreuen.

    Eine weitere Anweisung betrifft das Verhalten des Christen im Krankheitsfall: Ist jemand unter euch krank? Dann soll er die Ältesten der Gemeinde rufen, und sie sollen über ihm beten und ihn im Namen des Herrn mit Öl einreiben; und das Gebet des Glaubens wird den Kranken retten, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er eine Sünde begangen hat, so wird sie ihm vergeben werden. Man beachte, dass der Apostel nicht erwartet, dass die Ältesten oder Presbyter selbst von der Krankheit eines Gemeindemitglieds erfahren, sondern nur, dass sie auf Veranlassung des Kranken darüber informiert werden. Hier wird für die geistliche Behandlung eines Christen gesorgt, den der Herr auf ein Krankenbett gelegt hat. In einem solchen Fall sollten die Ältesten an das Krankenbett gerufen werden, um seelsorgerlichen Trost zu spenden. Dies geschah durch Gebet, begleitet von der Einreibung des Kranken mit Öl, was ein üblicher jüdischer Brauch war. Wenn all dies in der richtigen Weise geschah und der Kranke sich reumütig und begierig nach dem Trost des Evangeliums zeigte, dann gab es keinen Zweifel an der Wirksamkeit des Gebets an seinem Bett. Nicht nur würde das Glaubensgebet dieser kleinen versammelten Hausgemeinde von Gott erhört werden, indem er dem reuigen Sünder die Vergebung all seiner Sünden gewährt, sondern Gott würde ihn auch wiederherstellen, auf jeden Fall geistig und körperlich nach seinem Wohlgefallen. Anmerkung: Von einer Salbung als Sakrament finden wir in der Heiligen Schrift kein Wort. Die Einreibung, von der Jakobus in diesem Abschnitt spricht, vgl. Mark. 6,13, war ein außerordentliches Mittel, das in der frühen Kirche für die wundersame Heilung von körperlichen Gebrechen verwendet wurde. Diese Salbung geschah nicht, um den Kranken auf einen seligen Tod vorzubereiten, sondern zum Zweck der Heilung; die Vergebung der Sünden wird nicht dem Öl zugeschrieben, sondern dem Gebet des Glaubens.[6]

 

    Ermahnung zur Vergebung und liebenden Fürbitte (V. 16-20): Die am Ende des letzten Abschnitts erwähnte Vergebung der Sünden veranlasst den Apostel nun, eine allgemeine Ermahnung hinzuzufügen: Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet. Hier steht kein Wort über das ausschließliche Recht der Ältesten oder der Priester, Sünden zu vergeben, die Aussage ist vielmehr sehr allgemein gehalten. Alle Christen haben in ihrem täglichen Umgang miteinander reichlich Gelegenheit, die Liebe zu üben, von der hier die Rede ist. Wenn jemand seinem Bruder durch ein Wort oder eine Tat Schaden zugefügt hat, soll er den anderen offen um Vergebung bitten. Gleichzeitig wird das fürbittende Gebet angemahnt; denn die Wirksamkeit eines solchen Gebets, besonders in Fällen geistlicher Not, ist in der Heiligen Schrift so stark begründet, dass seine Vernachlässigung in der heutigen Zeit zutiefst bedauert wird.

    Dieser Punkt wird von dem Verfasser mit großem Nachdruck hervorgehoben: Eine große Macht hat das Gebet eines rechtschaffenen Mannes in seiner Wirksamkeit: Elia war ein Mann von gleichen Leidenschaften wie wir, und er betete ein Gebet, dass es nicht regnen sollte, und es regnete nicht auf der Erde drei Jahre und sechs Monate; und er betete wieder, und der Himmel ließ es regnen, und die Erde blühte auf (und brachte ihre Früchte hervor). Der Apostel ermahnt die Gläubigen zu einem schnelleren Gebet, und zwar zunächst durch eine allgemeine Feststellung der Tatsachen. Wenn das Gebet des Gerechten mit vollem Vertrauen auf seine Wirksamkeit gesprochen und deshalb mit aller Kraft zum Thron der Gnade gebracht wird, dann hat es eine Kraft, die über die Erfahrung des durchschnittlichen Christen in unseren Tagen hinausgeht. Das zeigt der Apostel am Beispiel von Elia. Obwohl dieser Prophet des Herrn ein Mann mit der gleichen geistigen Verfassung, mit den gleichen Neigungen und Leidenschaften war, wie wir sie in uns selbst finden, verschloss sein erstes Gebet den Himmel für insgesamt drei Jahre und sechs Monate, 1. Kön. 17,1; Luk. 4,25, während sein darauffolgendes Gebet den Himmel öffnete, der so lange verschlossen war, und einen großen Regen herabkommen ließ, 1. Kön. 18,42, und den Boden wieder in einen solchen Zustand versetzte, dass er Pflanzen zum Blühen bringen und Früchte tragen konnte. Nur wenige Menschen haben diese Lektion über die Notwendigkeit und die Kraft des ernsten Gebets gelernt, unter ihnen Martin Luther; aber das Beispiel ist noch da und drängt zur Nachahmung.

    Abschließend spricht der Apostel von einer besonderen Wohltat, die von allen Christen praktiziert werden sollte, und zwar mit weit größerer Freigebigkeit, als dies gegenwärtig der Fall ist: Meine Brüder, wenn jemand unter euch von der Wahrheit abirrt und sich bekehrt, so soll er wissen, dass derjenige, der einen Sünder von seinem Irrtum bekehrt, seine Seele vor dem Tod bewahrt und eine Menge Sünden bedeckt. Es wird immer wieder vorkommen, dass ein Bruder oder eine Schwester trotz aller Wachsamkeit von der anerkannten Wahrheit, vom Wort des Heils, abweicht. Die Welt ist voll von Versuchungen, und unsere eigene Natur ist nur zu schwach, um dem Bösen zu widerstehen. Wenn dies aber der Fall ist und einer der anderen Brüder oder Schwestern es unternimmt, den Irrenden wieder auf den rechten Weg zu bringen, dann sollte ihn der Gedanke während des ganzen Vorgangs ermutigen, dass sein Handeln durch die Gnade Gottes dazu führen wird, eine Seele vor dem Tod, vor dem geistigen und ewigen Tod zu retten. In diesem Fall werden auch alle Sünden, die der irrende Bruder begangen hat, zugedeckt und vergessen sein um des Heils Christi willen, das gerade für solche Sünder gewonnen wurde. Diese Überlegung sollte alle Christen bereit machen, nicht nur über ihr eigenes Verhalten die größte Wachsamkeit walten zu lassen, sondern auch mit den Brüdern und Schwestern zu wachen, die zum Stolpern und Fallen geneigt sein könnten. Vor allem sollte in der christlichen Gemeinde eine solche Nächstenliebe und Geduld herrschen, die ihr Vorbild in der Liebe des Erlösers hat.

 

Zusammenfassung: Der Apostel richtet verschiedene Ermahnungen an seine Leser im Hinblick auf den nahen Tag des Gerichts: Er ermahnt die Reichen, die Rechte ihrer Angestellten gebührend zu achten, drängt alle, in Bedrängnissen geduldig auszuharren, unterscheidet zwischen dem falschen und dem richtigen Gebrauch des Namens Gottes und ermahnt alle Christen, Vergebung und liebevolle Fürbitte zu üben.

 



A Aus: Johann Schaller: Kurze Bibelkunde. St. Louis, Missouri: Concordia Publishing House 1899. S. 203-206 (Dies ist KEINE Vorrede Luthers!)

[1] Concordia Bible Class, Nov. 1919, 173

[2] Fürbringer, Einleitung in das Neue Testament, 96

[3] Vgl. Concordia Triglotta, 189. 931; Apol. III, 123-125; Konk.Form., Aus. Erkl. III, 42-43

[4] Für V. 16-27 vgl. Homiletisches Magazin, 14 (1890), 142-153

B Entnommen aus: Dr. Martin Luthers Sämtliche Schriften. Hrsg. von Joh[ann] Georg Walch. Nachdr. der 2., überarb. Aufl. Bd. 10. Groß Oesingen: Verlag der Lutherischen Buchhandlung Heinrich Harms. 1987. Sp. 1262 ff. Sprachlich überarbeitet vom Herausgeber.erHe

C Die folgenden §§ 20-23 stehen nicht in der Original-Ausgabe, noch auch in der Übersetzung Spalatins, sondern sind in dieser revidierten Ausgabe aus der lateinischen Jenaer Ausgabe herübergenommen worden. D. Red. [Walch, 2. Ausgabe, St. Louis]

D Im Original steht „der Aussätzige“, aber nach dem biblischen Text ist da der Pharisäer Simon gemeint.

E Ob es sich hier tatsächlich um Maria Magdalena handelt, geht aus dem Bibeltext nicht hervor; das ist nur ein Rückschluss Luthers.

F Siehe Anm. 3

G Siehe Anm. 3

[5] Expositor’s Greek Testament, 4, 456

[6] Günther, Populäre Symbolik, 296; Pieper, Christliche Dogmatik, III, 136.

Hierzu ist noch vertiefend anzumerken, dass diese „Salbung“, von der hier die Rede ist, keine außerordentliche Handlung war, auch nicht eine besondere Handlung der frühen Gemeinde, sondern vielmehr ein damals ganz normaler, üblicher Vorgang bei der Behandlung von Kranken. Es gab zwar Ärzte, aber nur sehr wenig, und vielfach standen sie nicht in einem guten Ruf. Daher haben sich viele mit den Naturmitteln, die ihnen möglich waren, selbst geholfen. Den Kranken mit Öl einzureiben, und zwar intensiv, wie bei einem Athleten, dass das Öl in die Haut eindringt, war damals eine weit verbreitete medizinische Maßnahme. Und genau davon spricht hier Jakobus, dass die Ältesten neben ihrem wichtigen geistlichen Beistand auch den nötigen und möglichen medizinischen leisten. Denn es gilt zu beachten, dass das Griechische zwei Worte verwendet, die im Griechischen unterschiedlich gebraucht werden, aber, leider, oftmals ohne Unterschied mit „salben“ oder „Salbung“ übersetzt werden. „Chreoo“ steht für das sakrale Salben, wie es der Hohepriester empfing, wie es auch Könige bei ihrer Amtseinsetzung empfingen, wovon auch im Zusammenhang mit Christus gesprochen wird (gesalbt mit dem Geist mehr als seine Gesellen) oder der Geistessalbung der Gläubigen in 1. Joh. 2 (dort das entsprechende Substantiv „chrisma“). Jakobus aber verwendet bewusst „aleitho“, das Wort, das für die medizinische „Salbung“ oder besser Einreibung mit Öl steht, wie sie damals, wie schon erwähnt, weithin üblich war. Vgl. dazu auch: https://nouthetic.org/the-biblical-perspective-on-the-mind-body-problem-part-two/. „Krankensalbung“, wie sie jetzt sowohl bei den Römern als auch Evangelischen vorkommt, hat also keine biblischen Grundlagen.