Die Grundsätze der Hermeneutik sind unwandelbar

 

Von

Pastor Kenneth K. Miller

 

Übersetzt von Roland Sckerl

 

    Die letzten zweihundert Jahre waren für die Menschheit Jahre der Entdeckung. Gott bewirkte, dass Himmel und Erde viele ihrer Geheimnisse dem Menschen preisgeben mussten. Im Bereich der biblischen Wissenschaften gab es Entdeckungen von Städten, Ländern und ganzen Zivilisationen des Altertums, die zuvor unbekannt waren, und wir haben viel Licht auf die Zeiten und Orte, in welchen die Glaubenshelden lebten. Phantastische Mengen an geschriebenem Material sind auch zum Vorschein gekommen. Während einst angenommen wurde, dass das neutestamentliche Griechisch eine besondere Sprache des Heiligen Geistes gewesen sei, die nie von wirklichen Menschen gesprochen wurde, ist es nun allgemein bekannt, dass das Neue Testament in der Sprache der Menschen geschrieben wurde, der Sprache, die überall im Römischen Reich gesprochen wurde. Ebenso war das Hebräisch des Alten Testaments, wenn es auch keine Weltsprache war, viele Jahrhunderte bekannt und wurde gesprochen. Beide Sprachen folgten bestimmten Regeln der Grammatik und des Satzbaus, und Wörter hatten eine festgelegte Bedeutung. Da jetzt so viel Information verfügbar ist, sollte man normalerweise meinen, dass wir jetzt mehr über die Bibel wissen als jemals zuvor. Aber das ist nicht der Fall. Es ist gerade in diesem Zeitalter, in dem wir mehr Information haben als wir verarbeiten können, dass das „hermeneutische Problem“ sehr wichtig geworden ist. Warum ist das so?

 

    Es gibt ein Problem in der Hermeneutik heute aus genau dem gleichen Grund, aus dem wir Probleme im moralischen Bereich haben: Es hat in der Religion eine Revolution gegeben. Jeder Aspekt des Glaubens und Lebens wurde berührt von der weltweiten Flucht von der Bibel. So, wie es heute eine „neue Moral“ gibt, die keine Verwendung mehr hat für bleibende Standards und Normen, so gibt es auch eine „neue Hermeneutik“, die tatsächlich keine Verwendung hat für die Bibel als Standard und Norm. Hermeneutik wird im Lexikon definiert als „die Wissenschaft der Auslegung und Erklärung“. Sie besteht aus einem Satz von Regeln oder Grundsätzen, um die Bedeutung von Wörtern herauszufinden. Wenn wir also von einer „neuen Hermeneutik“ hören, so würden wir normalerweise an einige neue Regeln denken, die entdeckt oder zumindest angenommen wurden. Wir könnten auch denken, dass neue Information Bibelarbeiter veranlasst hätten, einige der alten Regeln zu ändern. Ist das der Fall? Einige denken so. Wir nicht. Wir glauben, dass die Grundsätze der Auslegung unwandelbar sind, und das aus verschiedenen Gründen. Der erste und wichtigste Grund ist:

 

    I. Die Grundsätze der biblischen Hermeneutik sind aus der Bibel selbst genommen. Wenn „wir auch reden, nicht mit Worten, welche menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Heilige Geist lehrt, und richten geistliche Sachen geistlich“ [1. Kor. 2,13], dann ist es ziemlich sicher, dass auch nur solche Bedeutungen finden werden, die der Heilige Geist in die Wörter gelegt hat.

 

      A) Das, was der Heilige Geist ausdrückt, kann nur aus seinen Worten gefunden werden; und die Regeln, um sein Wort zu studieren, müssen aus seinen Worten selbst kommen. Wir haben nicht das Recht, andere Regeln anzuwenden als mit denen er selbst arbeitet. Wenn, zum Beispiel, das Wort Gottes uns sagt, dass die Worte „Ich bin der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs“ (Matth. 22,32; 2. Mose 3,6) die Auferstehung der Toten lehren, dann haben wir nicht das Recht zu erklären, dass dies eine nicht zulässige Auslegung der alttestamentlichen Stelle sei. Da es sein Buch ist, so kann er, und nur er, uns sagen, was es aussagt. Eine grammatische Regel oder die Definition eines Wortes kann, wenn sie weltlichen Gebrauch genommen wurde anstatt vom Wort Gottes, uns nie eine sichere und endgültige Bedeutung geben, sondern nur eine mögliche, die damit keinerlei bindende Kraft hat. Die wichtigste grundlegende Regel der Hermeneutik ist daher, dass „Gottes Wort soll Artikel des Glaubens stellen und sonst niemand, auch kein Engel“ (Schmalk. Artikel, Trigl. S. 467). Und auch sie kommt direkt aus dem Wort Gottes. „Aber so auch wir oder ein Engel vom Himmel euch würde Evangelium predigen anders, als das wir euch gepredigt haben, der sei verflucht!“ (Gal. 1,8).

      B) Eine zweite Regel ist der wohlbekannte Grundsatz: Es gibt nur einen buchstäblichen Sinn (sensus literalis unus est). Das ist nicht nur eine Schlussfolgerung oder Annahme, sondern eine Schriftwahrheit. Salomo sagt: „Der Hasser verstellt sich mit seiner Rede, aber er im Herzen ist er falsch.“ (Spr. 26,24, rev. Lutherbibel). ‚Verstellen’ meint ‚in die Irre führen’, etwas aussprechen, das dem eigenen Denken fremd ist, eine Sache sagen und eine andere Denken. Das ist etwas, das Gott gewiss nie tun würde, auch nie erlauben würde, dass seine Jünger es tun. So befiehlt er, dass Diakone ehrbar sein müssen, „nicht zweizüngig“. (1. Tim. 3,8). Außerdem droht der HERR, diejenigen auszurotten, , die „heucheln und reden aus zwiespältigem Herzen“ (Ps. 12,3, rev. Lutherbibel). Ist es dann möglich, dass er eine Sache sagen und dabei eine völlig andere im Sinn haben sollte? Könnte es einen sensus plenior geben, einen völligeren Sinn einer Stelle, der nicht in den Worten selbst zu finden wäre? Kaum. Die Wörter des HERRN sind ganz und gar treffend, geeignet („ein Wort, geredet zur rechten Zeit“, Spr. 25,11; vgl. Ps. 119,127) und eindeutig. Sie sind „lauter, wie durchläutertes Silber im irdenen Tiegel, bewährt siebenmal“ (Ps. 12,7). Es ist ja richtig, manchmal wünschten wir, der HERR würde ein klein wenig klarer reden, und wir denken an Wege, wie wir seine Gedanken besser ausgedrückt haben würden. Im Blick auf die Kindertaufe, zum Beispiel, habe ich manchmal gewünscht, dass er in so vielen Worten gesagt hätte: Bring deine Kinder, damit sie getauft werden. Aber wenn wir so denken, drücken wir unsere eigene sündige Ungeduld und Faulheit aus. Der Heilige Geist hat alles sehr klar dargelegt, um uns zur Seligkeit zu unterweisen und geschickt zu machen zu allem guten Werk [2. Tim. 3,15.17].

      C) Ein dritter grundlegender Grundsatz ist die Lehre von der Klarheit der Schrift. Wir dürfen nie annehmen, dass die Botschaft der Bibel zu dunkel sei, um herausgefunden zu werden, oder dass wir das Wort Gottes völlig missverstanden hätten. So lange wir am Wort Gottes bleiben, erkennen wir die Wahrheit und sind seine Jünger. Joh. 8,31 f. Ohne Zweifel gibt es einige Stellen oder Abschnitte in der Schrift, die dunkel und schwierig sind. Etwas anderes zu sagen hieße, dem Wort Gottes selbst zu widersprechen, denn Petrus sagt, dass in den Briefen von Paulus „sind etliche Dinge schwer zu verstehen“. 2. Petr. 3,16. Aber zur gleichen Zeit müssen wir darauf bestehen, dass die Schrift ihr eigener Schlüssel zu Schrift ist. Salomo, zum Beispiel, führt in sein inspiriertes Buch der Sprüche ein, indem er sagt, dass sie gerade zu diesem Zweck nützlich seien: dass die Albernen witzig und die Jünglinge vernünftig und vorsichtig werden … dass er vernehme die Sprüche und ihre Deutung, die Lehre der Weisen und ihre Beispiele.“ (Spr. 1,4.6). Wenn ich darf, so sollte ich hier gerne Luther etwas ausführlicher sprechen lassen. In Vom unfreien Willen schreibt er über die Dunkelheit der Schrift folgendes:

 

    „Es hat aber der Teufel durch solch Vorgeben vom Lesen des göttlichen Worts abgeschreckt und die heilige Schrift verächtlich gemacht, damit er seine verderblichen Lehren aus der Philosophie in der Kirche zur Herrschaft brächte. Das gestehe ich freilich, dass viele Stellen in der Schrift dunkel und verborgen sind, nicht wegen der Hoheit der Dinge, sondern weil wir die Wörter und Sprachkunst nicht wissen, aber diese hindern durchaus nicht die Erkenntnis aller Dinge in der Schrift. Denn was kann in der Schrift noch übrig sein, das noch tief verborgen wäre, nachdem die Siegel gebrochen und der Stein von der Tür des Grabes gewälzt ist und das allerhöchste Geheimnis offenbart ist, dass Christus, der Sohn Gottes, Mensch geworden ist, dass Gott dreieinig und einig ist, dass Christus für uns gelitten habe und ewiglich regieren werde? Ist dies denn nicht auch in aller welt das Allerbekannteste und wird überall gesungen? Nimm Christus aus der Schrift, was kannst du dann noch weiter in ihr finden?

    Daher sind die Sachen, welche in der heiligen Schrift enthalten sind, alle deutlich offenbart, wiewohl einige Stellen dunkel sein mögen, weil die Worte noch nicht bekannt sind. Wenn man aber weiß, dass alle Sachen der heiligen Schrift in das hellste Licht gestellt sind, so ist es gewiss töricht und gottlos, wegen weniger dunkeln Worte auch die Sachen dunkel zu nennen. Wenn an einer Stelle die Worte dunkel sind, dagegen an einer anderen klar, aber ein und dieselbe Sache, aufs allerdeutlichste der ganzen Welt dargelegt, in der heiligen Schrift das eine Mal mit hellen Worten geredet wird, das andere Mal aber auch noch verborgen ist durch dunkle Worte, so liegt doch nichts mehr daran, wenn die Sache deutlich ist, ob irgendein Zeichen an ihr dunkel ist, während doch viele andere Zeichen derselben Sache deutlich sind. Wer wird sagen, dass ein öffentlicher Brunnen nicht am Tage wäre, weil die, welche in einer Nebenstraße sind, ihn nicht sehen, da ihn alle sehen, die auf dem Markte sind?

    Darum ist es nichts, was du von der Corycischen Höhle beibringst; so verhält er sich nicht mit der Schrift, und die verborgensten Geheimnisse der höchsten Majestät sind nicht mehr in der Abgeschiedenheit, sondern vor den Türen und auf freien Plan gebracht und allen Blicken ausgesetzt, denn Christus hat uns den Verstand geöffnet, dass wir die Schrift verstehen können. Und „das Evangelium ist aller Kreatur gepredigt“ [Mark. 16,15], und „sein Schall ist ausgegangen in alle lande“ [Ps. 19,5], und „alles, was geschrieben ist, ist uns zur Lehre geschrieben“ [Röm. 15,4], desgleichen [2. Tim. 3,16]: „Alle Schrift von Gott eingegeben ist nütze zur Lehre.“ Darum du und alle Sophisten, macht euch daran und bringet nur irgendein Geheimnis vor, welches in der heiligen Schrift noch verborgen ist. …

    So dienen auch deine Beispiele, welche du anfügst, und zwar sind sie nicht unverdächtig und nicht ohne scharfen Stachel, nichts zur Sache, wie das von der Unterscheidung der Personen, von der Vereinigung der göttlichen und menschlichen Natur, von der Sünde, die nicht vergeben werden kann, deren Zweideutigkeit, wie du sagst, noch nicht beseitigt sei. Wenn du das verstehst von den Fragen, welche die Sophisten über diese Dinge aufgeworfen haben, was hat dir die ganze unsträfliche Schrift getan, dass du ihrer Reinheit den Missbrauch der verruchten Menschen vorwirfst? Die Schrift bekennt einfach die Dreieinigkeit Gottes und die Menschheit Christi und die Sünde, die unvergebbar ist. Hier ist nichts von Dunkelheit oder Zweideutigkeit. Wie es damit aber zugehe, sagt die Schrift nicht, wie du vorgibst, und es ist auch nicht nötig zu wissen. Die Sophisten behandeln hier ihre Träume; die beschuldige und verdamme und sprich die heilige Schrift frei. Wenn du es aber verstehst vom Wesen der Sache selbst, so beschuldige wiederum nicht die Schrift, sondern die Arianer und diejenigen, welchen das Evangelium verdeckt ist, dass sie die klarsten Zeugnisse von der Dreieinigkeit Gottes und der Menschheit Christi durch Wirkung des Teufels, ihres Gottes, nicht erkennen.

    Und dass ich es kurz sage, es ist eine zweifache Klarheit der Schrift, wie auch eine zweifache Dunkelheit; eine, die äußerliche, liegt im Dienste am Wort, die andere liegt in der Erkenntnis des Herzens. Wenn du sprichst von der inneren Klarheit, so versteht kein Mensch auch nur ein Pünktlein in der heiligen Schrift, wenn er nicht den Geist Gottes hat, denn alle haben ein verdunkeltes Herz, so dass, wenn sie auch reden und alles aus der Schrift vorzutragen verstehen, sie doch davon nichts merken oder wahrhaft erkennen. Denn sie glauben auch nicht, dass ein Gott sei und dass sie Kreaturen Gottes sind, noch irgendein anderes, wie der 14. Psalm [V. 1] sagt: ‚Die Toren sprechen in ihrem Herzen: Es ist kein Gott.’ Denn der Heilige Geist ist nötig, um die ganze Schrift und irgendeinen Teil derselben zu verstehen. Wenn du von der äußeren Klarheit sprichst, so ist durchaus nichts dunkel oder zweifelhaft geblieben, sondern alles ist durch das Wort an das hellste Licht hervorgebracht und in der ganzen Welt kund getan, was auch immer in der Schrift enthalten ist.“ (Walch 2, Bd. XVIII, Sp. 1681-82.1683-84)

 

      D) Wenn daher ein Teil der Schrift „schwer zu verstehen“ ist, so liegt der Grund an unserem Mangel an Gelehrsamkeit und an unserer Unbeständigkeit, wie der Apostel sagt; und der Weg, die Dunkelheit zu überwinden, ist der, zu den Grundlagen zurückzukehren, sie gründlich zu lernen und in ihnen beständig und gegründet zu werden, uns von unserer eigenen Vernunft abzukehren und zu dem Abschnitt mit Gottes eigenem Licht zurückzukehren. So wird dann ein vierter Grundsatz aus der Bibel selbst erstellt, nämlich, dass die dunklen Stellen im Licht der hellen ausgelegt werden müssen. Friedrich Schleiermacher, ein Vater des modernen Liberalismus, denn er war ganz und gar gegen Dogmatik und dogmatische Formulierungen, widerspricht hier und behauptet, dass kein Abschnitt über eine gegebene Sache wirklich klar sei, bis nicht jeder Abschnitt, der davon handelt, ausführlich erörtert und geklärt ist. Er sagt, „Die Lehre als ein Ganzes kann nicht richtig erörtert werden, bis nicht jeder Abschnitt geklärt ist.“1 Als Antwort könnten wir erwähnen, dass den schwachen Christen gesagt wird, dass sie Milch anstatt fester Speise benötigen, für die sie schon bereit sein sollten; sie müssen zu den ersten Grundsätzen zurückkehren, Hebr. 5,11-13.

 

    Bevor wir diesen Bereich der Klarheit der Schrift verlassen, sollte erwähnt werden, dass das Argument vorgebracht wurde, dass die Bibel zwar klar in sich selbst sei, dass wir aber, die wir schwache, sündige menschliche Wesen sind, die immer dazu neigen zu irren, dieses klare Buch nicht verstehen können; es sei zu hoch für uns. Es ist wahr, dass es menschlich ist zu irren, und wir müssen zustimmen, dass viele im Verstehen der Schrift ernsthaft geirrt haben. Aber die Bibel selbst lehrt, dass ihre Aussagen nur denen verborgen sind „die verloren gehen … die nicht glauben“. 2. Kor. 4,3-4. Und in einer positiveren Weise sagt sie: „Das Zeugnis des HERRN ist gewiss und macht die Albernen weise … Die Gebote des HERRN sind lauter und erleuchten die Augen.“ Ps. 19,8-9. Da, wo Glauben ist, der ja selbst eine Frucht des Wortes Gottes ist, da ist dann auch die Bibel kein dunkles Buch mehr, auch wenn einige Abschnitte noch für eine Zeit verborgen bleiben mögen.

 

    E) Ein anderes Beispiel des sola scriptura-Grundsatzes in der Hermeneutik bezieht sich auf die Auslegung von Gleichnissen. Hier gibt es eine dreifache Regel: 1) Suche die geschichtliche Veranlassung und die Absicht des Gleichnisses. 2) Betrachte gewissenhaft die verschiedenen Merkmale der Geschichte. 3) Stelle alles zusammen unter dem aktuellen Vergleichspunkt, der sich durch den Skopus ergibt, und lass deine Aufmerksamkeit nicht durch einzelne Züge vom Hauptpunkt abgelenkt werden. (Wenger, Hermeneutics notes, Springfield, Illinois, handschriftlich). Dies ist gemäß dem Beispiel unseres HERRN selbst, der einige seiner eigenen Gleichnisse auslegte, wie das Gleichnis vom Sämann. Terry beobachtete in diesem Fall richtig wie folgt:

    „Jesus gibt besondere Bedeutung dem Sämann, dem Feld, dem guten Samen, dem Unkraut, dem Feind, der Ernte und den Schnittern, auch dem schließlichen Verbrennen des Unkrauts und dem Einsammeln des Weizens. Aber wir sollten auch in Betracht ziehen, dass er den Menschen, die schlafen, keine Bedeutung beimisst, auch nicht dem Schlafen selbst, auch nicht dem Aufgehen des Weizens und der Frucht, die er trägt, ebenso nicht den Dienern des Hausherrn und den Fragen, die er stellt. Sie sind nichts als zufällige Teile des Gleichnisses und nur notwendig zu einem guten Ausfüllen der Erzählung. Wenn man versuchen würde, ihnen eine besondere Bedeutung zuzumessen, würde man die Hauptaussage nur verdunkeln und verwirren. Wenn wir also wissen wollen, wie wir alle Gleichnisse auslegen sollen, sollten wir achthaben darauf, was unser HERR ausließ wie auch darauf, worauf er das Gewicht legte in diesen Ausführungen, die uns als Vorbild gegeben sind; und wir sollten nicht bestrebt sein, eine verborgene Bedeutung in jedem Wort und jeder Anspielung zu finden.“ (Milton S. Terry: Biblical Hermeneutics, 2nd Edition, 1911, S. 196).

 

    Das wird nicht nur unterstützt durch das Beispiel Jesu, sondern auch durch, was er über seine Gleichnisse sagt. Seine Jünger fragten ihn: „Warum redest du zu ihnen durch Gleichnisse? Er antwortete und sprach: Euch ist’s gegeben, dass ihr das Gleichnis des Himmelreichs vernehmt; diesen aber ist’s nicht gegeben.“ (Matth. 13,10 f.) Die Gleichnisse sind also nicht in der Absicht gegeben, eine genaue Bildrede zu sein, so jedes Ding für etwas anderes steht, sondern eine klare Ausführung bedeutender Wahrheiten des Reiches Gottes. Der Hauptpunkt des Gleichnisses ist das entscheidende Element; soweit die Einzelheiten der Erzählung ihm dienen, sollten sie ausgeführt werden; wenn sie aber nur rein zufällig sind, dürfen sie nicht den „Geheimnissen des Himmelreichs“ in den Weg treten.

 

    F) Lasst uns ein anderes Beispiel nehmen. Wir wissen alle, dass die Bibel Anthropomorphismen enthält: Von Gott wird so gesprochen, als hätte er menschliche Charakterzüge. Hier gibt es zwei Denkschulen. Die eine sagt, dass dies nur Sprachfiguren sind, um einige Eigenschaften Gottes zu zeigen. Die andere sagt, dass sie wörtlich genommen werden müssen und dass wir uns die Schreiber der Bibel als einfache Menschen vorstellen müssten, die tatsächlich dachten, dass ihr Gott Arme, Augen, Ohren usw. hätte – in einer Weise, ähnlich den Griechen mit ihren Göttern. Welche ist richtig? Die Bibel entscheidet. In 2. Chr. 32 finden wir Hiskia, der von Sanherib und seinem Heer bedroht wird, wie er den Juden versichert: „Mit ihm ist ein fleischlicher Arm, mit uns aber ist der HERR, unser Gott, dass er uns helfe und führe unsern Streit.“ [V. 8]. Es ist keineswegs willkürlich, dass wir diese Ausdrücke Anthropomorphismen nennen. Die Schrift selbst verlangt es, dass wir sie so annehmen.

 

    G) Ein anderes Beispiel liegt fertig auf der Hand im Gesetz des Zusammenhangs. Man muss immer einen Text in Übereinstimmung mit seinem Zusammenhang (Kontext) auslegen. Wenn man es anders machen würde, würde man behaupten, dass Gott sich selbst widerspräche und lüge, obwohl doch „Gott nicht lügen kann“ (Tit. 1,2). So beachtet Paulus Gal. 3 den historischen Zusammenhang der Verheißung an Abraham und zeigt an, dass sie 430 Jahre vor dem Gesetz gegeben wurde und dass sie daher unabhängig sein muss von irgendeiner Bedingung des Gesetzes. Ein bekanntes Beispiel wird in unseren lutherischen Bekenntnissen erwähnt. Im Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen verstehen einige Ausleger unter dem Acker die Kirche, um so ihre Idee, dass die Kirche eine sichtbare Körperschaft sei, zu unterstützen. Jesus jedoch erzählt uns einige Verse weiter, dass der Acker die Welt ist. Ihre Auslegung ist daher falsch. Sie kann nicht aus dem Text abgeleitet werden, da sie nicht mit dem Zusammenhang übereinstimmt, auch nicht mit dem Skopus oder der Absicht des Zusammenhanges in dem es gefunden wird, in unserem Fall das Gleichnis und die anderen, die es umgeben.

 

    Es gibt heute zwei hervorstechende Missbräuche dieses Grundsatzes. Der erste ist, dass der Text nichts aussagen darf über das hinaus, was der Kontext aussagt. Diesen Missbrauch finden wir vor allem in Verbindung mit den messianischen Prophezeiungen im Alten Testament. Wenn wir 1. Mose 3,15 auslegen, so wird uns gesagt, wir dürften den Text nichts über einen Erlöser sagen lassen, da dies dem Zusammenhang fremd sei, der ein Zusammenhang mit Verfluchen und irdischen Vorgängen wie Schlangen und Kindergebären sei. Wir dürften nicht mehr hineinlegen. Wir hören die gleiche Art von Anmerkung über Jesaja 7,14: „Eine Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären.“ Aber unser HERR hat nirgends gesagt: „Der Gedankengang des Kontexts wird nicht vergehen“; sondern er sagt: „Meine Worte werden nicht vergehen.“ Wir müssen die Wörter gewissenhaft untersuchen, um herauszufinden, was sie sagen. Daher ist es eine Vergewaltigung des Gesetzes vom Zusammenhang, wenn jemals irgendjemand darauf bestehen würde, dass ein bestimmtes Buch der Bibel nur für die, sagen wir, Korinther und Griechen, geschrieben worden sei und für niemand anders, und dass daher keine Ordnungen oder Verheißungen darinnen uns heute etwas angingen. Wir sind nicht nur irgendwelche Betrachter, die bezeugen, was der heilige Schreiber jemand anders schrieb. Wir sind vielmehr mit ihnen verbunden, wenn auch nicht in allen Dingen, und werden oft mit ihnen angesprochen, so, wenn Paulus den 1. Korintherbrief damit beginnt, dass er sich nicht nur wendet an „die Gemeinde Gottes in Korinth“, sondern auch an „alle die, die anrufen den Namen unsers HERRN Jesus Christus an allen ihren und unsern Orten“. So auch, wenn wir in Matth. 18 die Worte lesen „Sage es der Gemeinde“, so können wir nicht einfach kurz den Kontext überfliegen und feststellen, dass dies gesprochen wurde, bevor die Gemeinden entstanden waren, und dann daraus schließen, dass „Ortsgemeinden“ nicht gemeint sein könnten. Unabhängig davon, was der Zusammenhang enthalten mag, so meinte Jesus nichts anderes als die Ortsgemeinde. Es macht keinerlei Unterschied, dass seine Jünger noch nicht von einer solchen Einrichtung wussten und er dieses Thema noch nicht besprochen hatte. Er erwähnt sie jetzt, und sie wussten es jetzt, weil Jesus jetzt davon gesprochen hatte. Und in der Erzählung in 1. Mose macht es keinen Unterschied, dass der Messias noch nicht erwähnt worden war noch irgendetwas über ihn. Er wurde jetzt erwähnt im Protevangelium. Der Text kann allerdings mehr sagen, als der Kontext enthält.

 

    Umgekehrt ist es auch ein Missbrauch, wenn der Text den Skopus des Zusammenhangs so einschränkt, als dürfe das Kapitel nicht mehr aussagen als der Vers. Dies geschieht, wenn ein Vers losgelöst von seinem Zusammenhang zitiert wird, ein Vorgang, der auch von der Schrift verdammt wird. Als der Teufel den Psalm 91 zitierte in seinem Bemühen, Christus zur Sünde zu verführen, führte er nur solche Verse an, die von dem Schutz handelten, den die Engel geben; aber absichtlich ließ er jeden Bezug zu dem Wesen der Menschen aus, denen die Verheißung gilt. Die unmittelbar folgenden Verse lauten: „Er begehrt mein, so will ich ihm aushelfen.“ Das Zitat, wenn es als richtig angenommen worden wäre, wäre so zu einem Psalm geworden, der zu fleischlicher Sicherheit ermutigt. Es ist wichtig, dass ein Abschnitt und sein Zusammenhang in Übereinstimmung sind; aber der Zusammenhang fügt oft etwas hinzu. So, wenn Salomo in 1. Chr. 17,11-14 erwähnt wird, schließt dies nicht aus, Jesus zu erwähnen, den größeren Sohn Davids.

 

    H) Schließlich ist auch der Grundsatz, dass wir genau unterscheiden müssen, wenn wir die Schrift lesen, ein biblischer Grundsatz. Wir zitieren erneut Salomo, der schrieb: Dass die Unverständigen klug und die Jünglinge vernünftig und besonnen werden.“ Spr. 1,4 (rev. Lutherbibel). Paulus befiehlt gleichermaßen, dass wir alle „einerlei Rede“ führen und „haltet fest aneinander in einem Sinn und einerlei Meinung“, 1. Kor. 1,10. Diese Einheit ist nicht beschränkt auf eine Einheit in der Lehre und Treue, sondern erfordert auch Übereinstimmung in den Begriffen, den Kategorien und der Art und Weise der Rede. Sonst kann nur ein Geplapper herauskommen, wenn jemand von der Rechtfertigung spricht, wenn er sich auf die Werke bezieht, während ein anderer von der Heiligung spricht. Nicht nur werden sie nie zur Übereinstimmung kommen, sondern sie werden auch nie die Bedeutung des Abschnittes herausfinden. Wenn wir Gottes Wort lesen, müssen wir geistliche Dinge mit geistlichen vergleichen: Wir müssen unsere Denkweisen denen des Heiligen Geistes anpassen, anstatt dass wir erwarten, dass er auf unsere Begriffe eingeht. Und wenn wir uns daran machen, das Wort Gottes sorgfältig zu studieren, so können wir nichts anderes machen, als ihm in seinen eigenen Begriffen zu begegnen.

 

 

    II. Die Grundsätze der biblischen Hermeneutik gründen auf dem universalen Gebrauch der Sprache und sind daher unwandelbar. Dieser Grundsatz selbst ist auch biblisch und ist nicht nur eine Vermutung oder vom „allgemeinen Sinn“ genommen. Walther merkt an: „In 5. Mose 30,11-14 erinnert Mose selbst die Kinder Israel daran, dass ihnen Gottes Gebot in der Sprache gegeben sei, welche in ihrem Mund und Herz oder bei ihnen in Gebrauch, ihnen bekannt und geläufig sei.“ (Walther: Die wahre sichtbare Kirche, S. 81). Und dem Propheten Jesaja wurde befohlen: „Nimm vor dich einen großen Brief und schreib darauf mit Menschengriffel.“ (Jes. 8,1). Gottes Offenbarung wurde uns in menschlicher Sprache gegeben, und es kann daher erwartet werden, dass sie den normalen Regeln der Sprache folgt. Wenn dem nicht so wäre, so bliebe sie unklar und verborgen anstatt offenbar; aber er sagt: „Ich hab’s nicht im Verborgenen zuvor geredet.“ Jes. 48,16.

    Es ist eine Regel, dass wir die Entscheidung allein dem Grundtext lassen. Luther: „Darum ist’s gar viel ein ander Ding um einen schlichten Prediger des Glaubens und um einen Ausleger der Schrift, oder, wie es St. Paulus nennt, einen Propheten. Ein schlichter Prediger, ist wahr, hat so viel heller Sprüche und Texte durchs Dolmetschen, dass er Christus verstehen, lehren und heiliglich leben und andern predigen kann. Aber die Schrift auszulegen und zu handeln vor sich hin, und zu streiten wider die irrigen Einführer der Schrift, ist er zu gering; das lässet sich ohne Sprachen nicht tun. Nun muss man je in der Christenheit solche Propheten haben, die die Schrift treiben und auslegen und auch zum Streit taugen, und ist nicht genug am heiligen Leben und recht lehren. Darum sind die Sprachen stracks und allerdinge vonnöten in der Christenheit, gleichwie die Propheten und Ausleger; ob’s gleich nicht Not ist, noch sein muss, dass ein jeglicher Christ oder Prediger sei ein solcher Prophet, wie St. Paulus sagt 1. Kor. 12,8.9; Eph. 4,11.“ (Walther, a.a.O., S. 80)

 

    Wir gründen Lehren oder selbst Auslegung von Versen oder Worten nicht auf irgendeine Übersetzung, wie etwa die King-James-Version oder die Septuaginta (LXX). Diese können uns hilfreich sein als Führer, die uns zeigen, wie andere einen Abschnitt verstanden haben. Da aber die Übersetzungen manchmal irren, so müssen wir vorsichtig sein, wenn wir sie benutzen. Wir können nie lehrhaft sein und darauf bestehen, dass ein Abschnitt so und so eine Aussage hat, weil die LXX so übersetzt. Wir müssen auf dem Grundtext selbst stehen. Das macht die Bibel selbst oft. Im Alten Testament finden wir das Dekret des Kyrus, wie es in seiner Originalsprache, Aramäisch, gegeben war. Matthäus zitiert für uns aus dem Alten Testament (1,22 f.): „Das ist aber alles geschehen, auf dass erfüllt würde, was der HERR durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: Siehe eine Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären, und sie werden seinen Namen Emmanuel heißen, das ist verdolmetschet, Gott mit uns.“ In diesem Abschnitt stellen wir fest, dass der heilige Schreiber das Wort „Emmanuel“ gemäß seiner Etymologie auslegt, indem er Acht hat auf die Teile, aus denen es besteht. In Hebr. 7,2 finden wir ein anderes Beispiel. Melchisedek wird hier so erklärt: „Auf’s erste wird er verdolmetscht ein König der Gerechtigkeit, danach aber ist er auch ein König Salem, das ist, ein König des Friedens.“

 

     Wenn wir den Grundtext studieren, so beachten wir die Regeln der Grammatik, haben Acht auf die Formen der Wörter und ihren Platz im Satz, ihren Syntax. So unterscheidet Paulus zwischen dem Singular und Plural, wenn er sagt: „Nun ist je die Verheißung Abraham und seinem Samen zugesagt. Er spricht nicht: durch die Samen, als durch viele, sondern als durch einen, durch deinen Samen, welcher ist Christus.“ (Gal. 3,16).

 

    Im heiligen Text achten wir auch auf den Sprachgebrauch und entsprechende Hinweise. Es gibt Sprechfiguren, Ironie, Metonymie, rhetorische Fragen, Zugeständnisse, Höhepunkte, Rätsel, Metaphern und ähnliches, so, wie wir sie in anderer gewandt geschriebener Literatur haben. So sollten wir nicht überrascht sein, dass wir auch Übertreibung finden, wo manches um der Wirkung willen über die Wirklichkeit hinaus betont wird. Als Gideon die Feinde lagern sah, „hatten sie sich niedergelegt im Grunde wie eine Menge Heuschrecken; und ihre Kamele waren nicht zu zählen vor der Menge, wie der Sand am Ufer des Meers.“ Ri. 7,12. Und David spricht von Saul und Jonathan als solchen, die „leichter als die Adler uns stärker als die Löwen“ waren, 2. Sam. 1,23. Ein anderes Beispiel ist Psalm 6,7: „Ich schwemme mein Bett die ganze Nacht und netze mit meinen Tränen mein Lager.“ Vergl. Auch Joh. 21,25. 

   

    Wir sollten auch nicht überrascht sein, dass wir auch Bildsprache finden. Im Buch der Offenbarung finden wir oft symbolische Namen (Babylon), Zahlen, Farben und kostbare Steine und Metalle. Wir verlassen nicht den buchstäblichen Sinn der Schrift, wenn wir diese als Bilder annehmen, sondern folgen dem buchstäblichen Sinn. Im ersten Vers des Buches wird es angekündigt, dass, „was in Kürze geschehen soll“, in einer bildhaften Sprache vorgestellt werden sollte, in der Form von Zeichen: „und hat sie gedeutet und gesandt durch seinen Engel zu seinem Knecht Johannes“. (Offenb. 1,1)

 

 

    III. Die Grundsätze der Hermeneutik sind weiterhin auch deshalb unwandelbar, weil falsche Auslegungen nicht auf den allgemein anerkannten Regeln gründen, sondern aus schriftwidrigen Lehren oder Voraussetzungen kommen. 1. Mose 1-3 wird manchmal als ein Bild für den Fall eines jeden Menschen verstanden; aber diese Auslegung kommt nur zustande, wenn schon vorausgesetzt wird, dass die Kapitel nicht wahr sein können in dem, was sie wirklich aussagen. Eine falsche Lehre über die Schrift selbst ist die Grundlage für solch eine Auslegung. Ähnlich ist es, wenn die Reformierten die Einsetzungsworte so verstehen, dass Brot und Wein Bilder für Leib und Blut Christi wären, dann ist das nicht aufgrund irgendeiner grammatischen oder Sprachregel, die so etwas erfordert oder dieses Verständnis auch nur erlaubt (obwohl sie unaufhörlich auf sie verweisen), sondern der Anfang ist, ihr Verständnis, dass begrenzte Elemente wie Brot und Wein unmöglich den unendlichen Christus enthalten könnten, dessen Körper vielmehr irgendwo im Himmel sei und keineswegs auf Erden.

 

    Krister Stendhal wirft Rechtfertigung und Heiligung so durcheinander, als er über die Berufenen und Erwählten (Matth. 22,14) schreibt, dass er das gesamte Gleichnis von der königlichen Hochzeit falsch auslegt, wo die Notwendigkeit des hochzeitlichen Kleides (der Gerechtigkeit Christi, die durch den Glauben empfangen wird) betont wird. Seine Schlussfolgerung ist: „Selbstverständlich gewinnt der Begriff „Gerechtigkeit“ eine neue und tiefere Bedeutung im Neuen Testament, die seine Bedeutung aus dem Alten Testament modifiziert. Aber der Wandel ist nicht von der aktiven zur zugerechneten Gerechtigkeit, sondern von der niedrigeren zur höheren, und deshalb ist der Grundsatz der guten Werke eine zentrale Lehre des Matthäusevangeliums. Denn in der Kirche wird ein Leben in höherer Gerechtigkeit gelebt; und nur jemand, der an diesem Weg des Lebens teil hat, kann zu den Erwählten gehören.“ (Anton Fridrichsen: The Root of the Vine. S. 80)

 

    Es kommt auch oft vor, dass eine falsche Auslegung um einer falschen Lehre willen gegeben wird, um sie zu unterstützen. Barrett, zum Beispiel, kommentiert Joh. 10,30, „Ich und mein Vater sind eins“, so: „Johannes denkt in Begriffen der Offenbarung und nicht von kosmologischer Theorie (Bultmann, S. 295). Seine Aussage geht auf den Glauben, dass die Taten und Worte Jesu wirklich die Taten und Worte Gottes waren, der so einzigartig den Menschen in seinem fleischgewordenen Sohn begegnete. Diese Einheit wird oft in moralischen Begriffen ausgedrückt …“ Jesus spricht hier überhaupt nicht von Offenbarung. Barrett sagt das, was er sagt, weil er die wahre Gottheit Christi nicht annimmt. In seiner theologischen Einleitung sagt er: „Für Johannes bringt Jesu Sohnschaft allerdings eine metaphysische Beziehung zum Vater mit sich… Aber diese Bemerkungen werden immer eingeschränkt durch den Gedanken an eine grundsätzlich moralische Beziehung, in welcher der Sohn dem Vater gehorsam ist.“ (C.K. Barrett: Commentary on John. S. 60)

 

 

    IV. Viele andere falsche Auslegungen stammen von falschen Einleitungslehren. All die besonderen Regeln mögen bis auf den Buchstaben befolgt werden, aber die daraus folgende Auslegung kann ganz und gar falsch sein, weil man meint, der Abschnitt komme aus einer ganz anderen Situation. Die Bibel der Modernisten, die RSV [Revised Standard Version], gibt ein fertiges Beispiel in seiner Darstellung des dritten Kapitels bei Johannes. Anführungszeichen schließen mit dem 15. Vers und erwecken so den Eindruck, dass Jesus so weit gesprochen hat. Der bekannte 16. Vers ist nicht in Anführungszeichen und beginnt tatsächlich einen völlig neuen Abschnitt, was den Eindruck erweckt, dass dies ein erläuternder Kommentar des Evangelisten sei. Weil eine Unterbrechung an solch einer unnatürlichen Stelle gemacht wurde, so dass ein Abschnitt mit einem Wort wie „denn“ beginnt, so müssen wir fragen, warum das geschah. Die einzige Rechtfertigung dafür ist, dass der Schreiber des Evangeliums die Gottheit Christi gelehrt haben muss, während Jesus selbst diese Ansicht nicht teilte. Und diese Sicht wiederum muss auf der Annahme beruhen, dass der Jünger Johannes nicht der Autor dieses Buches ist, sondern ein anderer hat es in einer späteren Zeit geschrieben, nachdem genügend Zeit vorhanden gewesen war, dass die Lehren sich „entwickelt“ und verfestigt hätten, nachdem die Kirche über Jesus und sein Werk nachgedacht hätte.

 

    Ein anderes Beispiel erscheint mit Psalm 69, einem messianischen Psalm. Ein Kommentator, Kirkpatrick, stimmt nicht überein mit der Überschrift des Psalms, die ihn David zuschreibt; er nimmt an, dass Jeremia der Autor ist. Es kann auch nicht zustimmen, dass er über Christus ist; so macht er aus ihm einen „tiefen Schrei um Hilfe“. Er sagt: „Der Psalm ist nicht Vorhersage, sondern Beschreibung, und vieles davon ist einfach nicht auf Christus anwendbar. Das Bekenntnis der Sünden in Vers 6 und die Rachewünsche (Verse 23 ff.), sind völlig unvereinbar mit dem demütigen und sündlosen Jesus. Er ist nur in sofern prophetisch, als die Erfahrung eines jeden leidenden Dieners Gottes, der um Gottes willen im Alten Bund Zurückweisung und Verfolgung erduldet bis zu einem gewissen Grad ein Typos und eine Vorschattung auf die Erfahrung des wahren und vollkommenen Dieners Gottes war. Selbst die Einzelheiten ihres Lebens wurden so geformt, dass sie mit Einzelheiten im Leben Christi übereinstimmten…“ Nun gut! Dies klingt sehr einfühlsam; lasst uns sehen, was er mit dem Psalm macht. In Vers 5 lesen wir: „Ich muss bezahlen, das ich nicht geraubt habe.“ Er erklärt es nicht so, dass es sich auf den Erlöser bezieht, der die Sünden anderer trägt, 2. Kor. 5,21, sondern sagt vielmehr: „Er (Jeremia, der angenommene Autor) wurde beschuldigt, ein Erpresser und Unterdrücker der Armen zu sein, den man zwingen müsse, seinen unrechtmäßigen Gewinn herauszugeben.“ Aber er verweist uns auf keine Stelle, in der wir finden, dass Jeremia so beschuldigt und behandelt wurde. Das kommt daher, dass es keine solche Stelle gibt. Dieser Vers trifft vielmehr Jeremia überhaupt nicht; er trifft nur Christus. Ein wenig weiter in dem Psalm ist der bekannte Vers: „Und sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken in meinem großen Durst.“ (V. 22) Wiederum finden wir nirgends im Leben Jeremias, dass ihm solches widerfuhr. So muss Kirkpatrick als Kommentar geben: „Die Sprache ist zutiefst bildhaft: vgl. Jer. 8,14; 9,15; 23,15.“ Das ist sehr interessant: Der HERR hat die Einzelheiten von Jeremias Leben so sorgfältig geformt, dass nun ein Bild verwendet werden muss, damit sie mit den Einzelheiten in Christi Leben übereinstimmen; etwas, das tatsächlich nicht geschehen ist, wird als Typos und Bild auf etwas verwendet, das geschah. Das ist allerdings eine befremdliche Art von Typologie. Und es kommt aus fehlerhaften Einleitungslehren.

 

 

    V. Die unwandelbare Natur der Grundsätze der Hermeneutik wird auch durch die Praxis der „neuen Hermeneutik“ gezeigt. Die Verfechter dieser neuen Welle in den biblischen Studien fordern nicht wirklich die Grundsätze der „alten Hermeneutik“ heraus – sie ignorieren sie nur. Ihre Praxis ist es, einige religiöse („fromme“, „inspirierende“) Werte zu finden und anzuwenden, ohne den Text selbst ausführlich zu erörtern. Gemäß The New Hermeneutics, dem zweiten Band von New Frontiers in Theology, mit Robinson und Cobb als Herausgebern, ist die Bedeutung der Wortes „Hermeneutik“ jetzt erweitert worden, um alle Erfahrungen einzuschließen. Es ist nicht länger der Text, der verkündigt werden soll, sondern Gottes Wort in seiner Ganzheit (S. 106). Was ist das? Ebeling erklärt: „Der Text als Mittel der Predigt wird zu einer hermeneutischen Hilfe im Verstehen gegenwärtiger Erfahrung. Wo das radikal stattfindet, da wird das wahre Wort ausgerufen, und das meint tatsächlich Gottes Wort.“ (S. 109) Der Zweck des neuen Programms ist es nicht, uns zu helfen, Gottes Wort zu verstehen (vergl. 5. Mose 6,6), sondern das Leben zu verstehen und alles, das mit ihm zusammenhängt. „Die Wahrheit Gottes begegnet uns in der Konkretheit unserer historischen Situation. Aber das Verständnis dieser Situation erfordert, dass wir die Absichtlichkeit in allen Formulierungen sehen.“ (S. 161) Diese Art von zweideutigem Sprechen stammt von den Ideen Friedrich Schleiermachers, der das Interesse an Gottes Wort umleitete auf die Psychologie der Kommunikation. Wie die anderen Philosophen seiner Zeit, wie Kant, war er hauptsächlich daran interessiert, was in den Gedanken der betreffenden Personen vorging. Da diese Dinge zu sehr im Verborgenen liegen, hatte er zu schließen, dass die Worte der Bibel nur ein sehr unvollkommener Ausdruck des Wortes Gottes sei. Es müsse einen direkteren, intuitiven Weg der Kommunikation geben. Aber, leider, ist er nicht vorhanden. Das Beste, was du tun kannst, ist, so viel Information viel möglich über das Leben des biblischen Schreibers, seiner Zeit und Worte zu sammeln, und dann zu versuchen, dich in ihn hineinzuversetzen. Gerade so, wie Schleiermacher in seinem Dogmatisieren das fromme Selbstbewusstsein des Gläubigen auf den Thron der Theologie erhob, haben es auch seine Nachfolger in der neuen Hermeneutik gemacht. Ebeling (S. 110) fasst es in diese Worte: „Das hermeneutische Prinzip ist der Mensch als Bewusstsein.

 

    Bei solch einer Denkschule kann nur wenig Interesse vorhanden sein, tief in den Text einzudringen, um ihn gut zu kennen. Der Text ist nur eine Hülse, die „geschieht“, mit dem Kern der Wahrheit darinnen (S. 154).2 Es ist notwendig, an dem Text historisch-kritisch zu arbeiten, so wird gesagt, weil dies „das Wort Gottes als ein ganz und gar menschliches Wort enthülle, indem die menschliche Situation enthüllt werde, in welcher es als radikal menschlich empfangen wird. Dieser Prozess kann als „enthüllen“ bezeichnet werden.“ (S. 185) Oder er kann auch als „Entmythologisierung“ bezeichnet werden, d.h. es wird gesagt, dass alle Worte eine althergebrachte Weise seien, etwas zu sagen, und es dann versucht würde, die gleichen Dinge (so wird gehofft) in einer moderneren Sprache zu sagen. Die althergebrachten Ideen sind solche wie Wunder, Gottheit, Versöhnung, Rechtfertigung, Glauben, Himmel und Hölle. Dies sind keine Dinge, die durch die Wissenschaft der Hermeneutik behandelt werden müssten. Sie sind Sachen der Lehre, die entweder geglaubt werden oder nicht, auf der Grundlage der klaren Lehre der Bibel.

 

    Beide, die Theorie wie die Praxis der „neuen Hermeneutik“ dienen tatsächlich als Beweis dafür, dass es nicht so etwas wie eine neue Hermeneutik geben kann. Die Bibel wird sich nie anders selbst auslegen als sie es in der Vergangenheit getan hat. Die Grundsätze der biblischen Hermeneutik werden so lange bestehen, wie die Welt besteht, unverändert.

 

    erH



1 Seine Worte lauten: „Das Gemeinsame ist auch nicht eher richtig aufzustellen bis alle Stellen erklärt sind, und der schwankende Gegensatz von klaren und dunklen lässt sich darauf zurückführen, dass ursprünglich nur Eine klar ist.“ (Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik. Nach den Handschriften neu hrsg. und eingeleitet von Heinz Kimmerle. Heidelberg 1959. S. 102

2 Diese Einstellung gegenüber dem Wort Gottes ist nicht neu, war auch keine Erfindung von Schleiermacher, sondern lässt sich bereits im Pietismus (besonders bei August Hermann Francke) feststellen mit seiner Unterscheidung zwischen „Schale“ und „Kern“, „äußerem“ und „innerem“ Wort. (Schleiermacher ist u.a. in seinem Denken geprägt durch die sehr gefühlsbetonten Herrnhutischen Pietisten.) (Anm. d. den Übersetzer)