04. Die weitere reformatorische Entwicklung


Die weitere reformatorische Entwicklung bis zur Leipziger Disputation

Mit den 95 Thesen und deren Erklärungen war Luther noch nicht am Ende seiner biblisch-reformatorischen Entwicklung angekommen. Der Kern kristallisierte sich immer mehr heraus: Christus allein, Gnade allein, Glauben allein, die Schrift allein. Aber in vielem steckte noch römische Irrlehre drinnen, selbst die Gnadenlehre war noch nicht ganz eindeutig, ebensowenig diejenige über die Kirche, das Amt, die Sakramente. Gott führte es, dass er gerade durch die weiteren Auseinandersetzungen immer klarer, tiefer geführt wurde.

Rom selbst aber driftete in diesem Ringen immer mehr ab von der Bibel, verstieg sich in immer neue Irrlehren. So behauptete jetzt Prierias, das Papsttum sei die Kirche, beanspruchte damit auch absolute Autorität für das Papsttum, wie Luther ausdrückte: „Wer an einem Wort oder Werk der römischen Kirche zweifelt, ist ein Ketzer.“ (vgl. Heinrich Fausel: D. Martin Luther. Sein Leben und sein Werk. Bd. 1. S. 112.116) Dem stellte Luther gemäß der Schrift entgegen: Christus ist die Kirche; ein Konzil mag eine irdische Vertretung der Kirche sein, kann aber irren. (vgl. Fausel, Bd. 1, S. 113) Dies hatte sogleich Auswirkungen auf die Lehre vom Bann. Wenn Christus der Grund des rechtfertigenden Glaubens ist und das wahre Haupt der Kirche, so bestimmt er die Grenzen der Kirche – und damit kann ein ungerechtfertigter Bann nicht aus der Kirche als der verborgenen Gemeinschaft der Gläubigen, Heiligen ausschließen. (vgl. ebd.)

Die Verhandlungen mit Cajetan im Zusammenhang mit dem Augsburger Reichtstag 1518 brachten weitere Klärungen in der Gnadenlehre. Cajetan behauptete, die Gnade sei Besitz der Kirche (und damit letztlich des Papstes), ein Besitz, über den sie frei verfügen könne – und leugnete damit, dass die Gnade eine Gabe Gottes im Evangelium ist. (vgl. Fausel, Bd. 1, S. 115) Luther dagegen hob hervor, dass Christi Verdienst nicht der Schatz der Kirche ist, sondern nur das Mittel, das uns diesen Schatz, nämlich das Evangelium, die Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit, verdient hat. Der Schatz der Kirche ist das Evangelium von der freien Gnade in Jesus Christus. Das war es, was Luther schon in den Thesen 58 bis 62 dargelegt hatte. Damit machte Luther deutlich: Ein Widerruf ist völlig unmöglich. Widerruf wäre ein ein Widerrufen des Evangeliums und zudem gegen sein Gewissen. (vgl. Fausel, Bd. 1, S. 115.116)

In der Zeit nach dem Augsburger Reichstag wird es Luther immer deutlicher, „um was es geht in seinem Kampfe: Es ist keine Auseinandersetzung zwischen Orden und Fakultäten, Schulmeinungen und Kirchengruppen, nein, der Kampf zwischen Christus und Antichristus hat begonnen!“ (s. Fausel, Bd. 1, S. 123): „Ich werde dir mein Geschreibsel schicken, damit Du siehst, ob ich mit Recht ahne, dass der wahre Antichrist, auf den Paulus hinzielt (2. Tehss. 2,4), in der römischen Kurie herrscht. Heute schon glaube ich beweisen zu können, dass Rom schlimmer ist als der Türke.“ (s. Fausel, Bd. 1, S. 127) In diesen Kampf will Luther vor allem ziehen als der Mann der Heiligen Schrift, weshalb er in dieser Zeit sich besonders wieder der Auslegung der Heiligen Schrift widmet und den ersten Galaterbriefkommentar erarbeitet mit dem Jubel über die Freiheit der Erlösten: „Die menschliche Freiheit zeigt sich darin, dass die Gesetze geändert werden, aber die Menschen gleich bleiben; die christliche Freiheit zeigt sich darin, dass die Menschen andere werden, ohne dass die Gesetze geändert werden. Hier, im menschlichen Herzen, vollzieht sich die Entscheidung zwischen Freiheit und Knechtschaft!“ (s. Fausel, Bd. 1, S. 125)

Die Leipziger Disputation – wider die angemaßte Autorität Roms und des Papstes

Andreas Bodenstein-Karlstadt hatte im Mai 1518 die Theologie Luthers durch Thesen dargestellt und war dadurch in eine literarische Auseinandersetzung mit dem Ingolstädter Theologen Johann Eck verwickelt worden. Auf dem Augsburger Reichstag vermittelte Luther zwischen beiden eine Disputation über die Gnade und den freien Willen, die in Leipzig stattfinden sollte. Eck war aber kein selbständiger Bibeltheologe, seine Bibelkenntnis soll recht gering gewesen sein, sondern ein völlig der römischen Kirche und ihren Traditionen unterworfener Mann, der, nachdem der päpstliche Erlass gegen Luther vom November 1518 bekannt geworden war, sich völlig gegen Luther stellte. Seine Thesen, die er für das Streitgespräch herausgab, gingen daher auch gar nicht so sehr auf die Thesen Karlstadts ein, sondern vielmehr auf Luther direkt, dessen Lehre von Ablass, Buße, vom Schatz der Kirche und vom Fegfeuer. In diesem Zusammenhang geht Eck dann noch einen Schritt weiter und fordert Luther heraus, indem er nach dem Ursprung der Autorität des Papsttums fragt, nämlich ob das Papsttum göttlichen – wie die römischen Katholiken behaupten – oder menschlichen Ursprungs sei. Luther antwortet Eck in 13 Thesen und geht in der letzten auf die Frage nach dem Papsttum ein: „Dass die römische Kirche über allen anderen stehe, wird bewiesen aus den eiskalten päpstlichen Dekretalen, die erst in den letzten 400 Jahren aufgekommen sind. Gegen sie spricht die beglaubigte Geschichte von 11 Jahrhunderten, der Text der Heiligen Schrift und das Dekret des Konzils von Nizäa, des heiligsten von allen.“ (s. Fausel, Bd. 1, S. 130) Damit stellt Luthers erstmals öffentlich das Papsttum selbst in Frage.

In seinen schriftlichen Erläuterungen zu diesen Thesen vertieft Luther seine Aussagen noch, in welchen „er den historischen Nachweis für seine Behauptung führt, dem Papst nach Tradition und Rechtsstellung einen Ehrenvorrang und – nach menschlichem Recht – besondere Würde zugesteht, im übrigen aber erklärt, dass das Wesen der Kirche in der Bindung nicht an ein sichtbares Haupt, sondern an ihren unsichtbaren Herrn Christus besteht. Denn Kirche ist da – das wird von Luther erstmals öffentlich festgestellt –, wo das Wort Gottes gepredigt und geglaubt wird“. (s. Fausel, Bd. 1, S. 131) Zugleich vergrößert sich seine Befürchtung, es im Papsttum mit dem Antichristen zu tun zu haben: „Ich weiß nicht, ob der Papst der Antichrist selbst oder nur sein Apostel ist, so jammervoll wird Christus von ihm in seinen Dekreten – das ist die reine Wahrheit – geschändet und gekreuzigt.“ (Brief an Spalatin vom 13.03.1519; in: Fausel, ebd.) Damit ist Luther gerade in der Lehre von der Kirche zu wichtigen biblisch-reformatorischen Erkenntnissen gekommen: Die Kirche im eigentlichen Sinne ist nicht abhängig von irgendwelchen menschlichen Autoritäten oder Personen, sondern da vorhanden, wo Gottes Wort gepredigt wird und geglaubt. Das Wort des Evangeliums ist Samen und Grundlage der Kirche, wo Gottes Wort (und Sakrament) ist, da ist die Kirche. Der Glaube ist das, was eine Versammlung um Wort und Sakrament zur Kirche macht, gezeugt aber eben aus Wort und Sakrament. Und: Das Papsttum hat keinerlei göttliche Autorität, sondern ist eine rein menschliche Institution.

In der Auseinandersetzung in Leipzig selbst ging es Eck vor allem darum, Luther als Ketzer, als Hussiten abzustempeln, mit Hinweis unter anderem auf die Urteile des Konstanzer Konzils. Dies führt dazu, dass Luther seine Aussagen über das Papsttum und die menschlichen Autoritäten in der Kirche weiter vertieft und verbreitert: „Konzilien können irren, wie der Papst fehlen kann; menschlich geschichtliche Autoritäten haben für ihn keine unbedingte Gültigkeit.“ (s. Fausel, Bd. 1, S. 132)

Die Disputation selbst war zunächst überschattet von den parteiischen Machenschaften Ecks und der Leipziger, die keine Niederschrift zulassen wollten, dann, als Karlstadt darauf bestand, durchsetzten, dass die Schiedsrichter erst nachträglich benannt werden sollten. Dann wurde Karlstadt, der während der Disputation eifrig aus den Schriften der Kirchenväter zitierte und dadurch darlegte, dass Eck sie immer wieder falsch anführte, für sein Opponieren gegen Eck verboten, die Bücher zu benutzen. Am Schluss aber akzeptierte Eck dann plötzlich ziemlich alles, was Karlstadt vertreten hatte. „Am Schluss gab der heimtückische Bursche alles zu, was Karlstadt behauptete, obwohl er es so heftig gekämpft hatte, erklärte sein völliges Einverständnis mit ihm und rühmte sich noch, Karlstadt zu seiner eigenen Auffassung herübergezogen zu haben. Denn er verwarf Scotus samt den Scotisten und den Capreolus samt den Thomisten und behauptete, die übrigen Scholastiker hätten dasselbe gewusst und gelehrt [wie Karlstadt]. Damit waren Scotus und Capreolus gefallen, d.h. die zwei hochberühmten Parteien der Scotisten und Thomisten.“ (Luther: Bericht über die Leipziger Disputation. Brief aus Wittenberg an Hofprediger Spalatin vom 20. Juli 1519. in: Fausel, Bd 1, S. 135 f.)

Die Disputation zwischen Luther und Eck drehte sich in erster Linie über die Autorität des Papsttums, ob es also göttlichen Rechts sei, wie Rom behauptete und behauptet, oder ob es menschlicher Herkunft ist, wie Luther es in seinen Thesen dargelegt hatte. Obwohl er es schon ahnte, so ging Luther damals noch nicht so weit, im Papsttum eindeutig den Antichrist zu sehen. „Hier mag man auch bei meiner Sache sehen, wie schwer es ist, sich herauszuarbeiten und emporzuringen aus Irrtümern, die durch das Beispiel der ganzen Welt unantastbar und durch lange Gewohnheit gewissermaßen zur Natur geworden sind. Wie wahr ist das Sprichwort: „Schwer ist’s Gewohntes zu verlassen“ und „Gewohnheit ist die andere Natur“, und wie wahr sagt Augustin: „Die Gewohnheit, wenn man ihr nicht Widerstand leistet, wird zum Zwang.“ Ich selbst hatte damals die Heilige Schrift aufs sorgfältigste für mich persönlich und öffentlich gelesen und sieben Jahre lang gelehrt, so dass ich fast alles auswendig wusste; ich hatte ferner die ersten Anfänge der Erkenntnis und des Glaubens an Christus eingesogen, dass wir nämlich nicht durch Werke, sondern durch den Glauben an Christus gerecht und selig werden; endlich verteidigte ich das schon in der Öffentlichkeit, wovon eben die Rede ist, dass der Papst nicht nach göttlichem Recht das Haupt der Kirche sei. Und trotzdem sah ich nicht, was sich folgerichtig daraus ergab, dass nämlich der Papst dann notwendigerweise vom Teufel sei. Denn was nicht von Gott ist, das muss vom Teufel sein.“ (Aus der Vorrede zu Band 1 der Lateinischen Werke (1545). WA 54,183,1 ff. in: Fausel, Bd 1, S. 140 f.)

In seinem Brief an Spalatin vor der Disputation hatte Luther bereits deutlich dargelegt, worum es ihm in seiner 13. (12.) These ging: „Ich leugne, dass die römische Kirche höher ist als alle Kirchen.“ (Walch 2, Bd. XV, Sp. 833,5) Dies führt er zunächst historisch aus, indem er zeigt, dass die Ostkirchen nie unter dem Papst gewesen sind und weist ferner darauf hin, dass der nordafrikanische Bischof Cyprianus die afrikanischen Kirchen zu einem Konzil berief, ohne dazu sich erst von Rom autorisieren zu lassen (ebd., Par. 7).

Die These, um die es hauptsächlich ging, war die 13. und letzte aus der Thesenreihe Luthers gegen Eck: „Dass die römische Kirche höher sei als alle anderen, wird aus den ganz kalten [d.i. nichtssagenden] Dekreten der römischen Päpste, die in den letzten 400 Jahren aufgekommen sind, bewiesen; wider dieselben sind aber die bewähren Geschichten von 1100 Jahren, der Text der göttlichen Schrift und der Beschluss des Konzils zu Nizäa, welches von allen das heiligste ist.“ (Walch 2, Bd. XVIII, Sp. 721)

Zu dieser These, deren Bedeutung Luther wohl bewusst war, hat er dann auch eine breite Erläuterung geschrieben, in der er eine ausführliche Begründung dafür gibt, warum das Papsttum keine göttliche Ordnung ist. Dies ist gerade auch in der Zeit der Ökumene, in der der Antichrist noch einmal sein Haupt erhebt, sehr wichtig zu bedenken. Sehr deutlich hebt er darin hervor, dass die Kirche Christi keineswegs auf das Papsttum gegründet ist: „Die Kirche Christi ... ist fest gegründet auf den Fels des Glaubens.“ (Walch 2, Bd. XVIII, Sp. 725)

Was den Ursprung des Papsttums angeht, so bekräftigt Luther, „dass ... des römischen Papsts Gewalt durch menschlichen Beschluss eingesetzt ist“ (ebd. Sp. 728). Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang Luthers ausführliche exegetische Darlegung zu Matthäus 16, einer der Hauptstellen, auf die das Papsttum sich gründet. Hier hebt Luther hervor, dass Petrus keineswegs allein die Schlüsselgewalt versprochen wurde, sondern, wie dann auch die damit verbundene Stelle in Johannes 20,21-23 deutlich zeigt, der ganzen Kirche, allen, die den Heiligen Geist haben. (Walch 2, Bd. XVIII, Sp. 730) So hat auch die Alte Kirche diese Stellen verstanden: Nämlich dass, wenn Christus Petrus hier angeredet hat, er in ihm zu allen Aposteln gesprochen hat, da er ja auch alle Apostel gefragt hatte und Petrus das Bekenntnis im Namen aller Apostel abgelegt hatte. „Und sie werden dazu durch einen sehr starken Grund bewogen, welcher die Gegner unüberwindlich macht, nämlich durch diesen, dass Christus, wie auch der heilige Hieronymus an dieser Stelle erklärt, dem Petrus die Schlüssel nicht übergibt, sondern sie nur verspricht, daher müsse man auf eine solche Stelle zurückgehen, in welcher er die Schlüssel wirklich übergibt. Und dann wird die Stelle im [vor-]letzten Kapitel des Johannes [20,22 f.] eingeführt, dass er nicht zu Petrus, sondern zu allen sagt: Nehmet hin den Heiligen Geist. Welchen ihr die Sünden erlasset usw. Aus diesen Worten erhellt nicht allein, wem er in [der Person des] Petrus die Schlüssel versprochen habe, nämlich der ganzen Kirche, sondern auch, was er unter den verheißenen Schlüsseln verstanden wissen wolle, nämlich Vergebung und Behaltung der Sünden.“ (ebd.) „Es bleibt also nur übrig, dass Christus die Antwort des Petrus nicht für Petrus allein angenommen habe, sondern für die ganze Gesellschaft der Apostel und Jünger. Sonst hätte er auch die anderen von neuem gefragt. Hieraus folgt weiter, dass, gleichwie Christus die Person des antwortenden Petrus für alle annimmt, er so auch in der Folge nicht zu Petrus allein, sondern zu allen, in deren Person Petrus redet, sage: „Du bist Petrus, dir will ich die Schlüssel geben“ usw. Sonst wird die Schrift nicht recht verstanden, wenn nicht das Vorhergehende und das Nachfolgende recht verglichen wird.“ (ebd., Sp. 732) „Ich bitte dich, was kann hier dawider auch nur erdichtet werden, was kann deutlicher gesagt werden, als dass Petrus in dieser Person nicht Pertrus ist, dass er nicht Fleisch und Blut ist? Sondern er ist der, dem der Vater offenbart. Petrus wird hier ganz und gar außerhalb des Menschen gesetzt, und ist nun nicht mehr irgendeine Person für sich, sondern der Hörer des offenbarenden Vaters. Nicht Simon, Jonas’ Sohn, antwortet dies, nicht Fleisch und Blut, sondern der Hörer der väterlichen Offenbarung. Kann denn hier noch irgendein Verleumder das Wort Christi auf den Menschen Petrus verdrehen? Was folgt also? Derjenige, welcher der Hörer der väterlichen Offenbarung ist, dem werden die Schlüssel gegeben, nicht dem Petrus, nicht dem Sohne des Jonas, nicht Fleisch und Blute. Wenn sich dies nun so verhält, so folgt bereits unausweichlich (pronum), dass die Schlüssel keiner Privatperson gegeben sind, sondern allein der Kirche; denn wir sind von keinem einzelnen (privato) Menschen gewiss, ob er die Offenbarung des Vaters habe oder nicht.“ (ebd., Sp. 732 f.) Luther wird nicht müde zu betonen, dass es, wie auch Matthäus 18,17 zeigt, um die ganze Kirche geht, die die Schlüssel ursprünglich und eigentlich als Inhaberin von Christus bekommen hat. „Ferner redet er Matth. 18,17 f. in der Mehrzahl (plurali numero) nicht zu Petrus, nicht zu den Aposteln, sondern zu der Kirche, indem er spricht: Höret er die Kirche nicht, so halte ihn als einen Heiden und Zöllner. Wahrlich, ich sage euch: Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein. Tritt nun her, wenn du willst, und vergleiche diese Stelle mit jener. Jene Stelle lautet so, als ob allein dem Petrus die Schlüssel gegeben worden wären; diese leugnet es und behauptet, sie seien ihm nicht allein gegeben. Wie kann nun beides bestehen? Es muss schlechterdings das eine Wort mit dem anderen in Übereinstimmung gebracht werden, denn derselbe Christus hat beide gesprochen. Wenn sie [die Schlüssel] allein dem Petrus übertragen sind, so ist es eine Lüge, was er hier sagt, sie seien allen gegeben. Wer sollte aber nicht sehen, dass diese letztere Stelle die erstere auslegt, und dass in dieser die Sache deutlich erklärt ist, dort aber die Einigkeit vieler in der Kirche an Petrus gepriesen sei? Es ist also klar, dass die Schlüssel der Kirche gegeben sind, und es ist nichts, was dieser Stelle entgegengesetzt werden könnte, da er sagt: „Sage es der Kirche; wenn er die Kirche nicht hört“; er sagt nicht: „Sage es dem Petrus; wenn er den Petrus nicht hört“ usw.“ (ebd., Sp. 734 f.) Diese Worte sind ganz wichtig auch für uns heute, denn sie lehren deutlich aus der Schrift die Grundlage des Priestertums aller Gläubigen, die Schlüsselgewalt der Gemeinde Christi und jedes einzelnen Christen. Dies ist auch gegen alle hochkirchlichen Bestrebungen festzuhalten, bei denen die Gemeinde gegenüber dem Pastor zurückgedrängt werden soll, etwa wenn es um die Beurteilung der Lehre geht.

Darum stellt Luther dann fest: Wo die Offenbarung des Vaters ist (also das Wort Gottes) und das Bekenntnis zu Christus, da sind auch die Schlüssel. Das ist es, was dann im Augsburgischen Bekenntnis im VII. Artikel klassisch ausgedrückt wurde, dass die Kirche Christi da ist, „wo das Evangelium rein und lauter gepredigt und die Sakramente gemäß Christi Einsetzung gereicht werden“. Und dies Bekenntnis ist in jeder Kirche. Auch der Zusammenhang macht deutlich, dass die Kirche eben nicht auf Petrus gegründet ist. „Damit Christus uns dies recht einprägte: Sogleich nach diesem herrlichen Lobe des Petrus, da Petrus ihm wehrte, dass er nicht sterben sollte, hat dieser hören müssen [Matth. 16,22 f.]: Gehe hinter mich, Satan; denn du meinest nicht, was Gottes ist. Was ist dies? Petrus meint nicht, was Gottes ist? Hat es der Vater ihm denn nicht offenbart? Wenn dies vor dem Lobe des Petrus geschehen wäre, so hätte das einige Bedeutung, dass Petrus für seine Person und die seiner Nachfolger oder einer Kirche gelobt worden wäre. Aber jetzt, da er nach dem Lobe getadelt wird als einer, der Gott nicht kennt, wird klar, dass jener frühere Petrus, der die Schlüssel empfingt, nicht Petrus, der Sohn Jonas’, gewesen sei, sondern die Kirche, die Tochter Gottes, welche gezeugt durch das Wort Gottes, das Wort Gottes hört und beständig bekennt bis an das Ende, die nicht bisweilen nicht meint, was Gottes ist, und der nicht befohlen wird, sich wegzuheben, wie dem Petrus.“ (ebd., Sp. 735 f.)

Dann wirft Luther die Frage auf, die auch in diesen Zusammenhang gehört, woher denn dann der Papst überhaupt die Schlüssel habe – denn auch dies erhellt, dass er nicht der ursprüngliche und eigentliche Inhaber sein kann. Hätte sie die Person nämlich von sich selbst, so hätte sie diese ja schon, bevor sie ins Amt gewählt wäre und wäre dann schon zuvor Papst. Bekommt die Person sie aber erst übertragen, so wird deutlich, dass die Kirche, die sie überträgt, diese Inhaberin der Schlüsselgewalt ist. Die Dekrete der römisch-katholischen Kirche sind damit also gegen das Evangelium Christi gerichtet. „Daher, glaube ich, ist es hinlänglich klar, da gewisse Dekrete diesen Text auf den römischen Stuhl und den Papst ziehen, dass sie das Wort Christi nicht nur ganz kalt (was ich gar bescheidentlich gesagt habe), sondern auch dem Sinne des Evangeliums zuwider behandeln.“ (ebd., Sp. 740)

Auch die oft von Rom angeführte Stelle aus Johannes 21,15 setzt tatsächlich Petrus nicht über alle Schafe, sondern nur über etliche, denn Christus sagt hier nicht: Weide alle meine Schafe, sondern nur: weide meine Schafe, also diejenigen, die er Petrus anvertraut, während er den anderen Aposteln andere anvertraut. Da, wo er alle meint, sagt Christus auch „alle“, wie etwa Markus 16,15: Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium aller Kreatur. Petrus ist darum auch niemals Hirte oder Herr über alle Christen seiner Zeit gewesen, hat auch nicht andere ausgesandt, etwa zu den Heiden. Der Heidenapostel Paulus ist vielmehr von Christus völlig unabhängig von Petrus eingesetzt worden und stellt der Heilige Geist in der Schrift deutlich fest, dass Petrus der „Apostel der Beschneidung“ (Juden) sei, während Paulus derjenige der Heiden ist. Weiter macht Johannes 21 deutlich, dass es hier allein um das „Weiden“ geht, das in Liebe und mit dem Wort Gottes geschieht, keineswegs aber um Herrschen, um Oberhoheit. Höher sein aber, wie es der Papst sein will, ist kein evangelisches, geistliches Amt, sondern allein ein weltliches. (So hat Luther das Papstamt damals, zur Zeit der Leipziger Disputation, als er ja noch Glied der römisch-katholischen Kirche war, versucht aufzufassen, um es so noch irgendwie anerkennen zu können. Später dann hat er auch darinnen klarer gesehen, ist er von Gott zur völligen Klarheit geführt worden und hat es als völlig unmöglich erkannt und in ihm den in der Schrift geweissagten Antichristen begriffen. Aber schon damals, zur Zeit der Leipziger Disputation, stellt sich für Luther immer mehr die Frage, ob so etwas wie das Papsttum überhaupt berechtigt ist, auch als „weltliche“ Macht, oder nicht, und kommt mehr und mehr zu dem Schluss:) „Zum Schluss sage ich, dass ich nicht weiß, ob es der christliche Glaube leiden könne, dass auf Erden ein anderes allgemeines Haupt der Kirche aufgestellt werde als Christus. Es gibt Leute, welche Christus in die triumphierende Kirche zurückweisen, damit sie den römischen Papst als das Haupt der streitenden Kirche aufwerfen können, wider das ausdrückliche Evangelium Matthäi am letzten [28,20]: Siehe, ich bin bei euch bis ans Ende der Welt, und das Wort, Apg. 9,4: Saul, Saul, was verfolgest du mich? Denn deshalb wird die Kirche ein Reich des Glaubens genannt, weil unser König nicht gesehen, sondern geglaubt wird, wie es 1. Kor. 14,25.24 heißt: Er muss herrschen, bis dass er seine Feinde zum Schemel seiner Füße mache, und dann wird er das Reich Gott und dem Vater überantworten. Aber diese machen ein Reich der irdischen (praesentium) Dinge daraus, da sie ein sichtbares Haupt aufrichten. Denn auch wenn ein Papst gestorben ist, so ist doch die Kirche nicht ohne Haupt; warum wird also nicht bei Lebzeiten eines Papstes Christus allein für das Haupt gehalten? Oder tritt er etwa ab, wenn der Papst lebt, und folgt ihm, wenn er gestorben ist, gleichsam als eine Art abwechselnder Papst? Wenn er aber das Haupt ist, da der Papst lebt, warum stellen wir denn zwei Häupter in der Kirche auf? Ich schließe: Jeder Priester ist ein Bischof im Falle des Todes und der Not, er ist ein Papst und hat die größtmögliche Fülle der Gewalt über den, der da beichtet, wie die allgemeine Meinung der ganzen Kirche festhält und aus den Briefen des heiligen Cyprian klar bewiesen wird. Also ist aus göttlichem Rechte weder der Papst höher als die Bischöfe, noch die Bischöfe höher als die Ältesten. Diese Folgerung steht fest, denn das göttliche Recht ist unveränderlich, sowohl im Leben als auch im Tode.“ (ebd., Sp. 818 f.)

Luther weist außerdem darauf hin, dass die Oberhoheit des Papstes durch die Konzilsbeschlüsse in Konstanz ad absurdum geführt wurde, setzte doch dieses Konzil zwei Päpste ab und stand somit über dem Papstamt (vgl. Walch 2, Bd. XVIII, Luthers Erläuterungen über sämtliche Thesen, Sp. 873)