Anmerkungen
zur kanonischen Bibelauslegung
Roland Sckerl
Die sogenannte „kanonische Bibelauslegung“ hat ihren Ausgangspunkt in den USA, wo sie zunächst vor allem mit dem Namen Brevard S. Childs verbunden ist.1 Sie ist allerdings keineswegs eine einheitliche Methode, sondern diejenigen, die unter diesem Begriff zusammengefasst werden, weisen erhebliche Unterschiede untereinander auf und haben z.T. auch unterschiedliche Bezeichnungen geprägt (Lohfink und Zenger: kanonische Auslegung; Steins: kanonisch-intertextuelle Lektüre; Dohmen: Biblische Auslegung.2
Worum geht es bei der kanonischen Bibelauslegung? Grob gesagt geht es darum, die biblischen Bücher nach der Regel zu lesen, die der Kanon vorgibt, d.h. die Bücher von einem „Schriftganzen“ her zu verstehen. Wie dabei das „Schriftganze“ gesehen wird, darauf ist noch näher einzugehen. Dabei soll die Endgestalt der Bücher, so, wie sie vorliegen, nicht unterlaufen werden; vielmehr soll die Auslegung den vorliegenden Texten folgen.3 In sofern wird in der kanonischen Auslegung weniger eine Auslegungsmethode als ein hermeneutischer Zugang gesehen.4 Childs gehört dabei der mehr konservativen Richtung innerhalb der kanonischen Bibelauslegung an und kann davon reden, dass der Kanon durch geistliche Wirkung des Heiligen Geistes entstanden ist, dass er fest steht, eben durch die Inspiration durch den Heiligen Geist einen unwandelbaren und normativen Charakter erhalten hat. Die Texte seien dabei als eine „organische Einheit“ aufzufassen.5 Der Text sei innerhalb des Horizonts des gesamten Kanons zu sehen, der Bibelkanon sei der erste Kontext. (Es ist hier allerdings eine starke Gefahr vorhanden, dass die einzelnen Bücher und Textabschnitte nicht mehr ihre buchstäbliche Aussage haben, sondern ihnen, wie weiter zu sehen ist, von außen ein „Schriftganzes“ übergestülpt wird.) Der Begriff „Kanon“ wird dabei aber nicht so sehr als eine feste Textgestalt als vielmehr die Beschreibung einer inneren Beziehung zwischen einer Glaubensgemeinschaft und ihren Texten.6 Eine weitere Problematik dieses Kanonbegriffs ist, dass, eben weil die Verbalinspiration und Irrtumslosigkeit der Schrift abgelehnt wird, damit auch die einheitliche Autorenschaft des Heiligen Geistes für alle Bücher der Heiligen Schrift, behauptet wird, dass der Kanon an sich ja nicht a priori festgestanden habe, sondern vielmehr erst als „Konsens- bzw. Kompromissdokument“ „allmählich geworden“ sei. Die Frage wird dann auch aufgeworfen, ob denn eine Schrift, solange sie nicht Teil des Kanons ist, anders zu verstehen sei als dann, wenn sie zum Kanon gehört.7
Als zweite bedeutende Gründerfigur der kanonischen Bibelauslegung gilt James A. Sanders, der sich grundlegend von B.S. Childs unterscheidet. Er versteht den Kanon nicht statisch, sondern fasst ihn als einen „dynamischen Begriff“ auf (progressive Entwicklung der anerkannten Schriften zum Kanon). Der Kanon ist ihm Ausdruck der „Identität einer Glaubensgemeinschaft“. In der Selbstfindung der Glaubensgemeinschaft sei es entsprechend zu einer progressiven Transformation oder Umgestaltung der Texte gekommen, die für Sanders auch noch nicht beendet ist. Vielmehr komme es zu einer Anpassung der Glaubenstradition an das jeweilige Leben (womit willkürlicher „Auslegung“ Tor und Tür geöffnet ist).8
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es eine gewisse Aneignung dieser Richtung der Bibelauslegung etwa in der „Tübinger Schule“ um Peter Stuhlmacher und Hartmut Gese.9 Für sie ist der Ausgangspunkt der religionsgeschichtliche Zusammenhang, wobei die Zeit zwischen den beiden Testamenten für sie eine herausragende Rolle spielt.10
Es ist keineswegs so, dass die kanonische Bibelauslegung sich gegen die historisch-kritische Methode stellt. Sie wird vielmehr zumeist mit ihr verbunden. Norbert Lohfink und E. Zenger sehen in ihr die letzte Stufe der Redaktions- und Formkritik.11 Für Pellegrini ist sie nur eine Ergänzung zur HKM als Brücke zwischen Glauben und Wissenschaft.12
Dies zeigt sich auch bei Egbert Ballhorn und Georg Steins, die sagen, der Bibelkanon sei sachlich der primäre Kontext der Auslegung, aber nicht historisch. Ihnen geht es um einen Vorrang der sogenannten „Rezeptionsperspektive“ vor der historischen Konstruktion, oder, anders ausgedrückt, ihnen geht es darum, wie die Texte empfangen, aufgefasst, transformiert wurden. Sie sind beide römisch-katholische Theologen. Gerade in der römisch-katholischen Kirche spielt die sogenannte „kanonische Bibelauslegung“ eine große Rolle; auch Benedikt XVI. bekannte sich zu ihr in seinem Jesusbuch.13
Auch Johannes Taschner will nicht hinter die HKM zurück.14 Er behauptet, der Text sei aus der Glaubensgemeinschaft erwachsen durch einen Prozess der Auslegung, des Auswählens und Umgestaltens. Dadurch würden die Texte „relevant“ bleiben.15 Er ist stark von der sogenannten postmodernen Literaturwissenschaft oder „Literaturphilosophie“ geprägt, die dem Leser eine entscheidende Rolle beimisst. Er sieht dabei diesen Prozess keineswegs als abgeschlossen, sondern durchaus offen an, denn der Kanon sei nicht das Ende der „Glaubensgeschichte“. (Hiervon unterscheidet sich Childs entscheidend, denn für ihn stellt die vorliegende Textgestalt eine feste Autorität dar, nach der der Ausleger sich zu richten hat.16) Taschner spricht so von einer „produktiven Rolle des Lesers“. Für ihn ist der Text voller Brüche, Widersprüche, vor allem nicht abgeschlossen.17 Wenn er von „Inspiration“ spricht, so meint er damit den „Lebensvollzug einer Glaubensgemeisnchaft“, behauptet, dass „die Offenbarung über die Inspiration einer bestimmten Schrift als Lebensvollzug der Gemeinschaft entsteht und in dieser Gemeinschaft (produktiv) rezipiert wird“.18 Für ihn kommt es so zu einer Interaktion zwischen Text und Leser, die eigene Erfahrung komme so mit ins Spiel, der Text müsse aus seinem Kontext gelöst werden. Es ist nur folgerichtig, wenn es für ihn keinen absolut gültigen Textsinn gibt, sondern er von einem „offenen Textbegriff“ spricht, ähnlich wie T. Nicklas, der von einer „prozedularen Interpretation“ spricht, einem „leserorientierten Zugang“, d.h. der Prozess des Lesens sei konstitutiv für den Sinn.19
Dabei geht es einerseits zwar darum, die Theologie so etwas aus der Umklammerung durch die säkulare Geschichtswissenschaft zu lösen, ohne aber sich wirklich von dem, was als „historische Forschung“ bezeichnet wird, abzulösen.20 Dabei drängt sich allerdings der Eindruck auf, dass tatsächlich die Theologie aus der Umklammerung durch die Geschichtswissenschaft in diejenige durch die Literaturwissenschaft bzw. Literaturphilosophie geraten ist mit ihren Modellen der „Rezeptionsästhetik“ und „Intertextualität“. Es geht also tatsächlich gar nicht um die buchstäbliche Auslegung, sondern um eine „Interaktion“ zwischen Text und Lesendem, in die auch die Erfahrungen des Lesenden mit einfließen und nun in einen neuen Zusammenhang gestellt werden.21
Für die meisten Vertreter der kanonischen Schriftauslegung ist die Schrift durch immer neue „relectures“ zu dem geworden, was sie jetzt sei, indem die Texte immer neu aufgenommen, neu verstanden, neu gelesen wurden. Auch Childs behauptet dies22 und leugnet auch, dass Gott der Autor der Heiligen Schrift ist.23 Damit wird deutlich die Verbalinspiration und Unveränderlichkeit der Heiligen Schrift geleugnet. Dies korrespondiert auch sehr stark mit der römisch-katholischen Lehre, nach der ja nicht die Schrift die Kirche hervorbringt, sondern die Kirche das lebendige Subjekt der Schrift sei, also die Schrift erst zu dem mache, was sie sei.24 Das ist das genaue Gegenteil dessen, was die biblisch-lutherische (und auch die reformierte) Reformation lehren.25
Aus dem prozessualen Denken kommt dann auch der Ansatz, dass die „Glaubensgemeinschaft“ „Erfahrungen und Maßstäbe“ für die Textauslegung gebe.26 Damit wird aber die „Glaubensgemeinschaft“ oder Kirche zu einer Autorität neben der Schrift erhoben, wie es eindeutig ja in der römisch-katholischen Lehre der Fall ist. Damit wird tatsächlich der Bibeltext zu einem bloßen Interpretament, zu einer Zusammensetzung aus Traditionsschichten mit unterschiedlichem „Sitz im Leben“, als eine Heilsgeschichte, die immer neu zu lesen, neu zu tradieren, damit aber auch umzuinterpretieren ist.27
Immerhin bringt es die kanonische Bibelauslegung mit sich, dass der Text wieder mehr ins Zentrum rückt und wieder stärker betont wird, dass die Schrift sich selbst auslegt. Sowohl Stuhlmacher als auch Steins betonen, dass es darum geht, das zu lesen, was dasteht.28 Auch geht es, unter dem Begriff der „Intertextualität“ darum, die Beziehungen der verschiedenen Texte zueinander zu untersuchen, auch die Verbindung von Altem und Neuen Testament in der einen Bibel.29 Die Fragestellung bei dem Herangehen an den Text ist nicht mehr historisch orientiert, sondern kommt stärker von theologischen Prinzipien her. Dabei kommt es dann darauf an, was der Text sagt, welche Theologie aus ihm folgt.30
1 vgl. Childs, Brevard
S.: Biblical Theology of the Old and New Testaments. 1992/94. deutsch: Die Theologie der Einen Bibel.
1994/96; in: Sierzyn, Armin: Christologische
Hermeneutik. Eine Studie über historisch-kritische, kanonische und biblische
Theologie mit besonderer Berücksichtigung der philosophischen Hermeneutik von
Hans-Georg Gadamer. (Studien zu Theologie und Bibel. 3.) LIT-Verlag. 2010. S.
69 f. http://books.google.de/books?id=ReDpOnwOKR4C&pg=PA69&hl=de&source=gbs_toc_r&cad=4#v=onepage&q&f=false
Seine Richtung wird unter dem Begriff „canonical approach“ zusammengefasst.
Vgl. Ruth Scoralick: Kanonische
Schriftauslegung. In: SKZ 38/2009. S. 645 http://www.bibelwerk.ch/upload/20091127104302.pdf
2
vgl. Scoralick, ebd.
3
vgl. Stuhlmacher, Peter: Der Kanon und seine
Auslegung; in: C. Landmesser u.a. (Hrsg.): Jesus Christus als Mitte der
Schrift. 1997. S. 275; in: Sierzyn, a.a.O., S. 69; Scoralick, ebd.
4
vgl. Scoralick, ebd. S.
645 f.
5 vgl. Childs, Theology
I, S. 93 f.; in: Sierzyn, a.a.O.,
S. 70
6 vgl. Scoralick, a.a.O., S. 646
7
vgl. Kirchschläger, Walter: Kanonische Exegese –
Was ist das? 2009 : http://www.wir-sind-kirche.at/content/index.php?option=com_content&task=view&id=377&Itemid=27
8 vgl. Sierzyn, a.a.O. s.a. Sanders:
Canon and Community. 1984. ders.: From Sacred Story
to Sacred Text. 1987; in: Sierzyn, ebd. S. 70203 Die
von ihm vertretene Richtung wird als „canonical criticism“ bezeichnet. Vgl. Scoralick,
a.a.O.
9
vgl. Peter Stuhlmacher, 1997; in: Sierzyn, ebd. S. 69197
10 vgl. Sierzyn, ebd. S. 70
11 vgl.
Lohfink, Norbert: Was wird anders bei kanonischer Schriftauslegung? 1988. E.
Zenger: Das Erste Testament 1991; in: Sierzyn, ebd.
S. 71204
12 vgl. Sierzyn, ebd. S. 75
13 vgl. Sierzyn, ebd. S. 71
14 vgl.
Taschner, Johannes: Kanonische Bibelauslegung – Spiel ohne Grenzen? in: Egbert
Ballhorn, Georg Steins: Der Bibelkanon. 2007. S. 31; in: Sierzyn,
ebd. S. 77
15 vgl.
Taschner, a.a.O.; in: Sierzyn, ebd.
16 vgl. Childs, Brevard
S.: Introduction to the Old Testament as Scripture. 2. Aufl. 1983. S. 75 f.; in: Sierzyn,
ebd. S. 77248
17 vgl.
Taschner, a.a.O., S. 39; in: Sierzyn, ebd. S. 77
18 vgl.
Taschner, ebd. S. 38; in: Sierzyn, ebd.
19 Nicklas
schließt sich hier eng an die Literaturphilosophie von Umberto Eco und
letztlich die philosophische Hermeneutik von H.-G. Gadamer an. Vgl. Sierzyn, ebd. S. 78
20 vgl.
Steins, Georg: Der Kanon ist der erste Kontext. in: ZS Bibel
und Kirche 2.2007. S. 118; in: Sierzyn, ebd. S. 72
21 vgl. Scoralick, a.a.O., S. 646
22 vgl.
Childs, a.a.O., S. 13; Ballhorn, Steins: Bibelkanon, a.a.O., S. 118 f.; in: Sierzyn, a.a.O.
23 vgl.
Joachim Vette: Kanonische Auslegung. 2007. https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/40706/
24 vgl.
Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. S. 19 f.; in: Sierzyn,
a.a.O.
25 vgl. Sierzyn, ebd. S. 72217
26 vgl.
Taschner, a.a.O., S. 42 f.; in: Sierzyn, ebd. S. 78
27 vgl. Sierzyn, ebd. S. 87
28 vgl. Sierzyn, ebd. S. 76
29 vgl Scoralick,
a.a.O., S. 646
30 vgl.
Kirchschläger, a.a.O.